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Ein Ach unter jedem Dach. "Ibsen Huis" von Simon Stone nach Motiven von Henrik Ibsen

© Jan Versweyveld

Festival neuer Dramatik: Schwerter zu Tentakeln

Entgrenzt und geschichtsbewusst: Das Schaubühnen-Festival FIND widmet sich in diesem Jahr der „Kunst des Vergessens“.

Am Ende dieses fünfstündigen Abends, es geht auf Mitternacht zu, kommt doch noch Partystimmung auf. Angélica Liddell und ihre vielköpfige Performer-Schar tanzen ausgelassen zu einer Liebesschnulze, das Publikum klatscht im Takt. Ein gewisser Kontrast zum vorangegangenen Geschehen. Denn das Stück „Qué haré yo con esta espada?“ – „Was werde ich mit diesem Schwert tun?“ –, mit dem das diesjährige „Festival Internationale Neue Dramatik“ (FIND) an der Schaubühne eröffnet wird, verlangt dem Publikum nicht nur Geduld, sondern auch einen robusten Betrachtungswillen ab.

Unter anderem – Achtung, Trigger-Warnung, einige Beschreibungen könnten für empfindsame Leserinnen und Leser verstörend sein! – lässt sich die katalanische Künstlerin von einem Kollegen mit Teufelsmaske ausgiebig anpinkeln. Es werden Fotos von einem zerstückelten und halb aufgefressenen Leichnam projiziert, doch dazu später mehr. Und acht junge Performerinnen, die fast durchweg nackt auf der Bühne sind, zeigen in einer bemerkenswerten und sehr geruchsintensiven Szene, was sich mit Tintenfischen und ihren Tentakeln so alles anstellen lässt. Angélica Liddell war jedenfalls noch nie als Zimperliese bekannt und festigt auch im zweiten Teil ihrer 2015 begonnenen „Trilogie der Unendlichkeit“ ihren Ruf als entgrenzungsbereite Profi-Provokateurin. Wobei ihre Drastik tatsächlich kaum je selbstzweckhaft wirkt.

Es geht im „Schwert“-Stück zentral um zwei Gewalttaten, die sich in verschiedenen Jahrzehnten in Paris ereignet haben. 1981 hat der japanische Gaststudent Issei Sagawa in der Stadt der Liebe seine niederländische Kommilitonin Renée Hartelvelt ermordet, zerstückelt und gegessen. Und am 13. November 2015 starben in Paris bekanntlich fast 200 Menschen bei den Anschlägen islamistischer Terroristen auf Cafés und den Club Bataclan. Liddell, die sich zu diesem Zeitpunkt an der Seine aufhielt, deutet die beiden Horror-Ereignisse in der ihr eigenen Weise zu einer zivilisationskritischen Hardcore-Liturgie um. Frei nach Nietzsche: Wie sollen wir mit unserer wahren Natur in Kontakt kommen, wenn nicht durch Akte wider die Natur?

„Hände hoch, oder ich schieße!“

An einen domestizierten Gewalttrieb glaubt die Künstlerin jedenfalls nicht. Was sie in teils fulminanten Tiraden auch wortreich kundtut. Schon im vergangenen Jahr eröffnete das FIND mit der Liddell-Arbeit „Toter Hund in der chemischen Reinigung“, einer seltsam kraftlosen Inszenierung mit Mitgliedern des Schaubühnen-Ensembles. Hier aber zeigt sich die Künstlerin auf der Höhe ihrer Power. „Qué haré yo con esta espada?“ ist ein strapaziöses, aber lohnendes Exerzitium, weil Liddell in ihrem misanthropischen, aber letztlich sehr moralischen Furor gegen die Entwertung der Begriffe „Gott“, „Schönheit“ und „Liebe“ die Balance aus biblischem Pathos und finsterem Humor findet.

Überhaupt scheint 2018 ein lohnender FIND-Jahrgang zu werden. Ebenfalls am Eröffnungstag war „Kind of“ zu sehen, eine Arbeit der israelischen Regisseurin Ofira Henig, die weniger spektakulär, aber konzentriert von Konditionierung und Zurichtung durch Sprache erzählt – unter Verwendung von Canetti-, Chomsky- und Böll-Texten. „Kind of“ spielt in der Zeit nach dem Sechstagekrieg 1967 unter Schülern und Lehrern und ist letztlich ein Plädoyer wider den Konformitätsdruck und den militärischen Drill – auch im Spiegel des Israel-Palästina-Konflikts. Im Kapitel „Arabischstunde“ wird den Schülern etwa folgender alltagstauglicher Satz beigebracht: „Hände hoch, oder ich schieße!“

„Die Kunst des Vergessens“ lautet der Untertitel dieser FIND-Ausgabe, was gleich ein weites Assoziationsfeld öffnet. Die Regisseurin Caroline Guilea Nguyen überblendet in ihrer recherchebasierten Arbeit „Saigon“ (13.–15.4.) Erzählungen von Exil-Vietnamesen in Frankreich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der australische Shootingstar Simon Stone – zuletzt mit „3 Schwestern“ zum Theatertreffen eingeladen – verfolgt in „Ibsen Huis“ (20.–22.4.) die Geschicke einer niederländischen Architektenfamilie von den sechziger Jahren bis in die Gegenwart. Wofür verschiedene Werke des titelgebenden norwegischen Dramatikers die Inspiration geliefert haben. Das Stück „El Hotel“ vom Teatro La María aus Santiago de Chile löst das Motiv des Verdrängens und Vergessens hingegen recht plastisch ein: Es spielt in einer Alzheimer-Klinik in der Antarktis, in der sich ehemalige Schergen der Pinochet-Diktatur verlustieren (11. und 12.4.).

„Küsst mir den Arsch. Wir sehen uns in Disneyland.“

Zu den Highlights gehört auch die Arbeit „Inflammation du verbe vivre“ („Entzündung des Verbs ,leben‘“) des kanadisch-libanesischen Regisseurs Wajdi Mouawad (11. und 12.4.). Das vom Künstler solo performte Stück beginnt mit dem „Philoktet“ von Sophokles und führt ins Griechenland der Gegenwart, wo die Verheerungen der Schuldenkrise längst nicht ausgestanden sind. Mouawad zählt, wie auch Angélica Liddell und Rodrigo García, zu den bereits bewährten Kräften beim FIND.

Das Festival ist nicht zuletzt ein Schaufenster der internationalen Arbeitsbeziehungen der Schaubühne, die eine oftmals erfreuliche Verstetigung erfahren. Die irische Gruppe „Dead Centre“, 2016 mit dem Theater-im-Theater-Stück „Chekhov’s First Play“ beim FIND zu Gast, inszeniert jetzt fürs Repertoire des Hauses „Shakespeares Last Play“; die Premiere ist unmittelbar nach dem Festivalende.

Bei aller Freude auf kommende Attraktionen scheint eines allerdings auch gewiss: Keiner Künstlerin, keinem Künstler wird in diesem Jahr noch ein Schlusssatz glücken, der es an Prägnanz und Geistesschärfe mit den letzten Worten von Angélica Liddell in „Qué haré yo con esta espada?“ aufnehmen könnte: „Küsst mir den Arsch. Wir sehen uns in Disneyland.“

Noch bis 22. April an der Schaubühne. Das vollständige Programm unter: www.schaubuehne.de

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