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Paare vor der Kamera. „Death and Birth in My Life“ ist eine Arbeit des Schweizer Künstlers Mats Staub. Das Stück erzählt Dramen, die jede Familie kennt.

© Festival

Festival Theaterformen: Gedächtnis der Gefangenen

Die Welt will dokumentiert werden: Das Festival Theaterformen in Hannover schafft Raum für unerzählte Geschichten.

Martin ist eines von sieben Geschwistern, sein Vater kam direkt von der Front zur Taufe. Die beiden hatten nie ein gutes Verhältnis, in Erinnerung geblieben sind vor allem Ohrfeigen wegen gestörter Mittagsruhe und der freudige Ausruf des 12-jährigen Jungen auf dem Weg zur Beerdigung des Erzeugers: „Jetzt ist der alte Kerl tot!“ Heute ist Martin 78 und Großvater. Die Geburt seiner eigenen Tochter hat er verpasst, weil ihn sein damaliger Intendant, ein schwerer Säufer, nicht von der Probe ließ. Seine jüngste Schwester hat sich das Leben genommen.

Hanna ist die älteste Tochter der Familie, sie hat zwei Kinder, sie hatte auch drei Abtreibungen, die sie nicht bereut. Sie bittet die Ungeborenen nur um Verzeihung, dass sie es nicht geschafft hat, mit ihnen zu leben. Hannas Eltern waren 12 Jahre lang pflegebedürftig, die Mutter demenzkrank, der Vater heimgesucht von den Traumata aus der Nazizeit.

Räume für das Existentielle

Die Gleichzeitigkeit von Geburt und Tod, die ja gemeinhin nur den Stoff für schwülstige Kalenderweisheiten liefert, steht im Zentrum des Film-Projekts „Death and Birth in My Life“ des Schweizer Künstlers Mats Staub. Für die international angelegte Langzeitarbeit inszeniert er die Begegnung verschiedener Paare, die vor der Kamera über sehr persönliche, auch intime Erfahrungen sprechen, die sich gegenseitig zuhören, stützen, befragen. Zu sehen sind diese Portraits als je einstündige Video-Installation, auf zwei nebeneinander stehenden Bildschirmen. Wie eben die Erzählungen von Hanna und Martin aus Hannover. Ganz abgesehen davon, dass es bewegende Geschichten sind, machen die gesammelten Lebens- und Todes-Berichte vor allem deutlich, welche Räume für das Existenzielle im Alltag fehlen.

„Death and Birth in My Life“ ist beim diesjährigen Festival Theaterformen zu sehen, das ja im jährlichen Wechsel zwischen Hannover und Braunschweig stattfindet. Die künstlerische Leiterin Martine Dennewald setzt auf geballte Wirklichkeit, mit einer Vielzahl von dokumentarischen Arbeiten jenseits aller Moden des Betriebs (Festival Theaterformen: noch bis 30.6. in Hannover, theaterformen.de).

Erinnerungslandschaft aus Habseligkeit

„Aleppo. A Portrait of Absence“ des syrischen Autors Mohammad Al Attar zum Beispiel ist ein beeindruckendes Puzzle des Verschwindens. Je zehn Zuschauerinnen und Zuschauer wählen eingangs ein Stück aus einer Stadtkarte der zerbombten syrischen Metropole, mit dem sie sich dann an Tische begeben, die verteilt in der großen Halle des Hannoverschen Kulturzentrums Pavillon stehen. Je ein Schauspieler gesellt sich dazu und trägt die Geschichte eines ehemaligen Bewohners jenes Viertels vor, das man sich ausgewählt hat. Erinnerungen, die vom Verblassen bedroht sind, in mehrfacher Hinsicht. Weil den vom Krieg Vertriebenen teils die Details im Gedächtnis entgleiten. Und weil es die Orte, von denen sie erzählen, heute möglicherweise gar nicht mehr gibt.

„Untold Stories disappear“, unerzählte Geschichten verschwinden, lautet das inoffizielle Motto dieser „Theaterformen“-Ausgabe. Wohl wahr. Dazu passend hat der argentinische Regisseur Marco Canale einen Stadtparcours mit dem Titel „Die Geschwindigkeit des Lichts“ inszeniert, der auf den Erinnerungen hannoverscher Seniorinnen und Senioren gründet und auch in private Wohnzimmer führt. Und der gefeierte russische Theatermacher Konstantin Steshik bringt mit „Kurzzeit“ ebenfalls ein Stück über das Altern und das Vergessen mit. Im Zentrum stehen ein Vater, dem das Kurzzeitgedächnis abhanden gekommen ist, und sein erwachsener Sohn, die sich durch eine Erinnerungslandschaft aus Habseligkeiten tasten.

Folter und Verrat

Es gibt ja auch Erlebnisse, die zu vergessen eine Gnade wäre. Für die sieben libanesischen Männer, die im Stück „Untitled“ auf der Bühne stehen – und von denen einer, Saadeddine Saifeddine, kein Visum für die Reise zum Festival erhalten hat –, sind das die Jahre, die sie als politische Gefangene in Haftanstalten im Libanon und in Syrien verbracht haben. Von denen erzählen sie. Berichten von Sammelzellen, in denen sie übereinander gestapelt liegen mussten, von der Folter, der sie ausgesetzt waren, von Verrat unter den Gefangenen, aber auch von Momenten einer kaum für möglich gehaltenen Solidarität.

Hinter dem Stück steht die Zoukak Theatre Company aus Beirut, die sich auf psychosoziale Interventionen spezialisiert hat, auf ein Theater also, das für die Beteiligten auch therapeutische Funktion erfüllt. In der Vergangenheit hat die Gruppe unter anderem mit inhaftierten Jugendlichen, mit Kindern mit Mehrfachbehinderung oder mit Frauen gearbeitet, die häuslicher Gewalt ausgesetzt waren.

Schmerzlicher als Berichte über ausgerissene Zehennägel oder sind in „Untitled“ die Momente, in denen die Männer von ihrem Versuch erzählen, irgendwie ins Leben zurückzufinden. Von den verlorenen Jahren, in denen sie sich eine Zukunft hätten aufbauen können und die ihnen niemand zurückgibt.

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