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Festival "Theaterformen" in Braunschweig: Eidechsen in der Sonne

Das Festival Theaterformen in Braunschweig wird immer mehr zum glokalen Event – global und lokal zugleich. Die künstlerische Leiterin Anja Dirks legt in diesem Jahr einen Fokus auf kroatisches Theater und spannt überhaupt den Bogen quer durch Europa.

Zwischen Braunschweig und Mexico City liegen 9582 Kilometer. Und noch unendlich viel weiter entfernt scheint die Geschichte des südamerikanischen Landes, die Zeit der Guerilla-Unruhen in den 60er und 70er Jahren. Entsprechend geben sich die Mitglieder des Theaterkollektivs „Lagartijas tiradas al sol“ (etwa: Eidechsen, die sich sonnen) alle Mühe, die Distanz auf ein anschauliches Maß herunterzubrechen.

„Die Sprache des Feuers“ heißt das Stück, es ist eine Geschichtswerkstatt en miniature. Die drei Performer benutzen als Folie für ihr Rechercheprojekt die Biografie einer Politikaktivistin namens Margarita Urías Hermosillo, Jahrgang 1944, die sich in jungen Jahren der Guerillabewegung anschließt, verhaftet und gefoltert wird. Die Inszenierung fragt nach der Haltung der heutigen Generation zur Historie, indem sie die Unrechtsvorfälle der wenig aufgearbeiteten Epoche des schmutzigen Krieges wachruft: das Massaker an Studenten 1968 auf der Plaza de Tlatelolco, die Übergriffe der paramilitärischen Gruppe Los Halcones, die Verschleppung von Regierungsgegnern in das berüchtigte Campo Militar No 1. Das Problem ist nur, dass die Eidechsen-Performer mit einer solchen Faktenwut durch ihren Modellparcours peitschen, dass einem vor lauter Daten und Namen bald nur noch der Kopf schwirrt. Mittelamerika bleibt weg weit.

„Die Sprache des Feuers“ lief zur Eröffnung der Theaterformen. Dieses international orientierte Festival, das im jährlichen Wechsel zwischen Hannover und Braunschweig stattfindet, wird immer mehr zum glokalen Event – global und lokal zugleich. Die künstlerische Leiterin Anja Dirks legt in diesem Jahr einen Fokus auf kroatisches Theater und spannt überhaupt den Bogen quer durch Europa und darüber hinaus: die jüngste Arbeit des britischen Kollektivs Forced Entertainment („The Coming Storm“) steht neben einem Gothic-Cabaret aus Norwegen („Das ewige Lächeln“), ein syrischer Revolutionsmonolog („Look at the Streets … This Is What Hope Looks Like“) trifft auf Christoph Marthalers eigentümliche „My Fair Lady“-Variation „Meine faire Dame – Ein Sprachlabor“.

Zugleich aber nimmt das Festival unter dem Motto „Du bist die Stadt“ das schöne Braunschweig in den Blick und zielt auf ein Theater der gesteigerten Bürgerbeteiligung, beginnend mit der Inszenierung „100 Prozent Braunschweig“ von Rimini Protokoll. Das Stück gibt die Bühne frei für hundert Einwohner, die den statistischen Querschnitt der Stadt repräsentieren und anhand persönlicher Gegenstände von sich erzählen. „100 Prozent“ haben Rimini Protokoll schon in Berlin erprobt, das Prinzip ist im Grunde universell anwendbar, importierbarer Lokalpatriotismus sozusagen. Wobei die Idee, Quoten Gesichter zu geben, ja immer ihren Charme hat.

Auf dem Burgplatz in der Braunschweiger Innenstadt kann man die eigene Auskunftsbereitschaft unter Mitmach-Bedingungen erproben. Der katalanische Regisseur Roger Bernat lädt hier zum Stadttheater-Spiel „Domini Públic“. Die Teilnehmer, vermummt unter ausgegebenen Regencapes, lassen sich von einer Stimme über Kopfhörer durch die Performance dirigieren. Auch hier werden Fragen gestellt, den Antworten entsprechend bewegt man sich in verschiedene Richtungen über den Platz. Wobei man, wenn man ehrlich ist, ziemlich viel von sich preisgibt. Da bleibt es nicht bei dem simplen Umstand, ob man in Braunschweig oder anderswo geboren wurde. Die Kopfhörerstimme will es genau wissen: Verdienst du mehr als 3000 Euro im Monat? Hast du schon mal Nacktfotos von dir selbst gemacht? Hast du schon mal einen arabisch aussehenden Menschen verdächtigt? So in der Art. Natürlich beäugt man die anderen, während man zwischen Selbstentblößung und Schutzbehauptung flaniert. „Domini Públic“ wird zur Stunde, da wir zu viel voneinander wussten.

Um die unüberwindlichen Gräben zwischen Menschen und Welten geht es dagegen in dem Stück „Freetown“ des Niederländers Rob de Graaf, einem frühen Höhepunkt des Festivals. Drei phänomenale Schauspielerinnen – Ellen Goemans, Lies Pauwels und Manja Topper – sitzen als westliche Touristinnen auf weißen Plastikstühlen in einem Müllmeer aus leeren Dosen: Venus-Beach, eine Ferienanlage irgendwo in Westafrika.

Die zivilisationsflüchtigen Damen im hautengen Leopardendress suchen hier Entspannung und exotische Reize - in Gestalt von gut gebauten jungen Schwarzen. Das Stück spielt den Sextourismus überspannter Besserverdienerinnen so reflektiert wie bitterkomisch durch. Afrika ist weit weg, aber diese Erzählung kommt einem sehr nahe.

Bis 10. Juni. Info: www.theaterformen.de

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