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Szene aus „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ von Mariano Pensotti.

© Dorothea Tuch

Festival "Utopische Realitäten" im HAU: Weg mit den Ketten!

Nudisten-Power und Geschichte als Musical: Das Festival „Utopische Realitäten“ im HAU fragt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution, was von der Zukunft noch übrig ist.

Spät an diesem Festivaleröffnungsabend im HAU ersteht ein Genre auf, das hierzulande nie wirklich hoch im Kurs stand: der revolutionäre Softporno. In dem Stummfilm der russischen Künstlerin Marina Davydova entkleidet sich eine Gruppe junger Frauen am See, tollt ausgelassen über die Wiese und feiert die Nacktheit als emanzipatorisches Unterfangen. „Mädels, werft die Ketten ab! Ein freier Geist in einem freien Körper“, verkündet die eingeblendete Schrifttafel. Später geht’s mit gleichgesinnten Jungs zum „Nieder mit der Scham!“-Walk in die nächste Stadt, um mit Nudisten-Power die Klassenschranken einzureißen. Hüllenlosigkeit als radikale egalitäre Maßnahme – das ist doch mal eine Utopie!

Freilich, Davydovas Film – Teil ihrer performativen Installation „Eternal Russia“ – ist weit mehr als ein verspielter erotischer Witz. Vielmehr rekurriert der FKK-Reigen auf die Ideale einer russischen Früh-Feministin namens Alexandra Kollontai, die als Ministerin bei Lenin und später als erste Spitzendiplomatin der Welt reüssierte. Und die im Nachklang der Revolution von 1917 für eine Gleichberechtigung und (sexuelle) Selbstbestimmtheit der Frau eintrat, die eine zeitlang tatsächlich Wirklichkeit zu werden schien. Selbst die Abtreibung wurde 1920 auf Bestreben von Kollontai legalisiert. Bis der stalinistische Backlash gnadenlos über alle Liberalisierungen hinwegfegte, in Gesellschaft, Kunst und Politik wie im Bett.

"In Russland ist nichts unmöglich, außer Reformen", schreibt Oscar Wilde.

Anlässlich des Revolutionen-Jubiläums hat Annemie Vanackere am HAU ein Festival mit dem Titel „Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai“ gestartet. Kooperationspartner ist das Haus der Kulturen der Welt, das in seiner mehrjährigen Projektreihe „100 Jahre Gegenwart“ ja eine Vielzahl gegenwärtiger Verwerfungen mit Blick auf ihre historischen Rückkopplungen untersucht. Auch am HAU liegt der Fokus auf der Frage, was das Jahr 1917 für uns übrig gelassen hat – an dringend wieder zu verwertenden Ideen für eine nahende Zukunft, die nicht unbedingt reich an Verheißungen scheint.

Auch in der Gemeinschaftsarbeit „Eternal Russia“ der Kritikerin und Kuratorin Marina Davydova sowie der Künstlerin Vera Martynov wirft die Geschichte vor allem Schatten. Die reichen von der Zarenzeit bis in die Gegenwart. In einer Video- Lecture führt Schauspieler Sergey Chonishvili sehr klug und pointiert durch Jahrhunderte russischer Befindlichkeit und zeigt, wie gewachsene Herrschaftshörigkeit und fehlendes emanzipiertes Bürgertum echten Veränderungen stets im Weg standen. Bekanntlich folgte auf die Februarrevolution von 1917 ja schon im Herbst die Konterrevolution der Bolschewiken. „In Russland ist nichts unmöglich“, wird Oscar Wilde zitiert, „außer Reformen“.

Einen eher ratlosen Grundton schlägt auch die zweite Auftakt-Premiere des Festivals an: „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ vom argentinischen Regisseur Mariano Pensotti. Der verschränkt sehr kunstvoll die Geschichten dreier Frauen, die mehr oder weniger direkt mit dem Jahr 1917 zu tun haben. Eine Professorin hat russische Revolution als Fachgebiet, muss sich aber selbst eingestehen: „Mein Leben ist viel konventioneller als das, was ich unterrichte“. Eine Guerilla-Kämpferin kehrt aus Kolumbien zurück und lernt schmerzhaft, dass alles, was das Label Revolution trägt, sich prima verkaufen lässt. Am besten sollte sie aus ihrer Geschichte ein Musical machen!

Vom Pathos der 20er Jahre ist nicht mehr viel übrig

In der dritten Episode reist eine Fernsehjournalistin in den argentinischen Norden. Dort leben Nachfahren von Emigranten der Revolution von 1917, die sich als Stripper und Callboys ihr Geld bei Mittelschichtsladys verdienen. Ein paar Hütten weiter verrichten Frauen als Arbeitssklavinnen ihren Frondienst und fertigen Matruschka-Puppen. Kleine Lektion über die Ambivalenz von Ausbeutungsverhältnissen – womit wir wieder bei Kollontai wären. Pensottis tolle Arbeit mischt Puppenspiel, Stück-im-Stück und Film. Was so selbstironisch wie ehrlich forschend die Suche der russischen Avantgarde nach neuen Formen aufnimmt. „Film im Theater? Gab’s in Russland schon vor 100 Jahren!“, kommentiert einer aus Pensottis Ensemble schulterzuckend.

Ein starker Festivalauftakt jedenfalls. Und einige vielversprechende Arbeiten folgen noch. Die Bildende Künstlerin Vlatka Horvat wird in „Minor Planets“ die russische Revolution mit dem Zerfall ihrer jugoslawischen Heimat in den 90ern verschränken. Das Rotterdamer Studio Jonas Staal sucht zusammen mit Berliner Gästen nach neuen Möglichkeiten von Gemeinschaft. „Utopische Realitäten“ ziele auch darauf, zu zeigen, so Annemie Vanackere im Programm, „dass unsere Gegenwart nicht die Zukunft der Vergangenheit gewesen sein kann“. Wohl wahr. Vom Pathos der Errichtung einer neuen Welt, Motor der russischen Avantgarde der 20er Jahre, ist jedenfalls nicht mehr viel übrig. In der teils beklemmend düsteren Installation „Eternal Russia“ heißt es einmal: „Die Avantgarde ist kanonisiert. Die zeitgenössische Kunst wird bekämpft.“ Beschworen wird die berechtigte Furcht vor einem Faschismus, der überall, auch in Europa, aufblitzt und sich Bahn bricht im „Sieg des aggressiven kleinbürgerlichen Geschmacks“.

Festival „Utopische Realitäten“, noch bis 22. Januar im HAU

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