zum Hauptinhalt

Festival von Locarno: Der Stich der Hornisse

Das Festival von Locarno zeigt starke Dokus, mäßige Spielfilme und würdigt den Inspirator Werner Herzog. Eine Bilanz.

Unscheinbar wie eine Fliege an der Wand? Nur Versager haben eine solche Berufsauffassung! Eine Stunde lang erklärt Werner Herzog in seiner Masterclass, wie man für einen Dokumentarfilm die besonderen Momente herauskitzelt. „Wir sind doch keine Fliegen! Wir sind die Hornisse, die im entscheidenden Moment zusticht.“

In vielerlei Hinsicht war der deutsche Filmemacher der beste Ehrengast, den das Filmfestival von Locarno hat finden können. Als großer, unabhängiger Regisseur. Als wichtiger Dokumentarfilmer. Als einer, der auch im hohen Alter nicht müde wird, die Dinge so zu artikulieren, wie nur er sie artikulieren kann.

Solche Filme, die ordentlich zustechen, will der neue Festivalleiter Carlo Chatrian zeigen. Er setzt damit die Arbeit von Olivier Père fort, der Locarno nach nur drei Jahren wieder verließ. In dieser Zeit aber machte Père so viel richtig, dass Chatrian erst einmal darauf verzichten kann, dem Festival einen eigenen Stempel aufzudrücken.

Die Jury folgte seiner Linie: Hauptpreise gab es für Albert Serras sperriges Bilder-Poem „Historia de la Meva Mort“, in dem Casanova auf Dracula trifft, und für die sehr persönliche Aids-Dokumentation „E Agora? Lembra-me“ des Portugiesen Joaquim Pinto. Überhaupt ist nicht zu übersehen, dass Dokumentarfilme in Locarno immer mehr ins Zentrum rücken. Auch in diesem Jahr war Gutes dabei: „Manakamana“ etwa aus Harvards Sensory Ethnography Laboratory. Der zweistündige Film zeigt mit statischer Kamera nichts als das Innere von Gondeln einer Seilbahn. Während die Landschaft im Hintergrund vorbeizieht, beobachtet sie die Passagiere auf ihren zehnminütigen Etappen zu einem Bergtempel in Nepal – ungeschnitten. Ein faszinierender, sogar unterhaltsamer Blick, der kleinste Gesten hervortreten lässt. Dafür gab es zu Recht den Hauptpreis der Sektion „Cineasti del presente“.

Konventioneller, aber auch spannend: Die deutsch-österreichische Koproduktion „Master of the Universe“. Marc Bauder lässt darin einen ehemaligen Frankfurter Investmentbanker aus dem Nähkästchen plaudern – nüchtern, einsichtig, es ist keine Abrechnung. Was er aber zu erzählen hat, ist erhellend und beunruhigend zugleich. Das System ist für die Mitspieler fast so unübersichtlich wie für die Zuschauer, die das Spiel an der Seitenlinie rat- und fassungslos verfolgen.

Auch ein bemerkenswerter Film über Männer, Macht und die Krise unserer Tage ist Jean-Stéphane Brons Porträt des Schweizer Rechtspopulisten Christoph Blocher („L'expérience Blocher“). Bron interviewt nicht. Stattdessen begleitet er Blocher in der Politikerlimousine und setzt dem geläufigen Medienbild des Volkstribuns das Bild eines schlitzohrigen, doch recht kleinformatigen Mannes entgegen. Was ihm mit Bildern nur halbwegs gelingt, schafft „Master of the Universe“ gewissermaßen im Plauderton: die Entmystifizierung mit den Mitteln der Dokumentation.

Auffällig ist auch die Verbindung von Spiel- und Dokumentarfilm. In „Gare du Nord“ ist die Liaison zwischen einem Studenten und einer Professorin eingebettet in einen Mikrokosmos aus Reisenden, Einwanderern und Bahnhofsangestellten, die Regisseurin Claire Simon bei der Arbeit zur Dokumentation „Géographie humaine“ am selben Ort kennenlernte.

Die kanadische Filmemacherin Louise Archambault ließ sich von Les Muses, einer Theater- und Musikschule für Behinderte in Montréal, nicht nur inspirieren. Für ihren Film über die Liebe zwischen zwei jungen Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom, „Gabrielle“, machte sie die Studenten kurzerhand zu Darstellern – allen voran die strahlende Gabrielle Marion-Rivard in der Titelrolle.

Wie erzählt man hoffnungsvoll von Menschen, die es immer schwer haben werden – ohne am Ende so zu tun, als sei alles gut? Archambault gelingt dieser Spagat auf außerordentliche Weise. Ebenso übrigens wie dem amerikanischen Wettbewerbsbeitrag „Short Term 12“, der in einem Heim für schwierige Jugendliche spielt. Beide Filme wurden mit Ovationen gefeiert; „Gabrielle“ bekam den Publikumspreis, Brie Larson einen silbernen Leoparden für ihre Darstellung der Betreuerin Grace in „Short Term 12“.

Demgegenüber war die Aufregung über David Wnendt „Feuchtgebiete“ schnell vorüber. Auch „Vijay und ich“ von Sam Garbarski („Irina Palm“) hinterließ trotz des gut aufgelegten Moritz Bleibtreu kaum Eindruck. Immerhin ist es schön, dass diese Verwechslungskomödie alten Stils nicht alles in die wohlfeile „Sei du selbst!“-Moral zurückzwingt.

Man musste allerdings nur ein paar Schritte über die Piazza machen, um zu sehen, dass es auch ganz anders geht. Im Ex-Rex-Kino lief die Retrospektive des Hollywood-Großmeisters George Cukor („My Fair Lady“). Kein anderer zwang seinen Darstellern ein derart hohes Komödientempo ab. Schauspiellegende Jacqueline Bisset, die am Lago Maggiore einen Ehrenpreis entgegennahm, erinnert sich mit gemischten Gefühlen an die gemeinsame Arbeit: „Ich fühlte mich wie mit der Peitsche getrieben. Er rief immer ,Schneller, schneller!’. Wenn jemand versuchte, seine Szene zu melken, wurde er angeschrien.“

Ein wenig von Cukors Wut würde man sich heute wieder für das Kino wünschen. Die publikumswirksamen Titel auf der Piazza Grande – neben „Vijay und ich“ vor allem die neuen Filme von Michael Curtis („About Time“) und Sandra Nettelbeck („Mr. Morgan’s Last Love“) – wirkten erstaunlich kraftlos. Auch Komödien brauchen den richtigen Stich zur rechten Zeit. Sie vielleicht sogar am allermeisten. Sebastian Handke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false