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Festivalmacher: In 60 Jahren um die Welt

Rio, Moskau, Tokio .... Festivalmacher fliegen ständig um die Welt. Sie gucken unendlich viele Filme, nur die Sonne sehen sie nie. Zehn Geschichten von unterwegs.

Sie reisen viel, die Berlinale-Macher: um Filme aufzutreiben, auf kleineren Festivals, in Schneideräumen oder bei den jeweiligen Filmexport-Interessensverbänden. Besonders leidenschaftlich reisen die Leute vom Forum. Die 1970 ins Leben gerufene Sektion für den jungen, unabhängigen Film hat sich von Anfang an für die Ganzweitweg-Länder interessiert, für revolutionäre Länder, für Diktaturen, in denen Kunst immer auch Widerstand bedeutet. Was bei der Kopienverschickung mitunter Schmuggeltechniken erfordert. So hat der chinesische Regisseur Huang Qi eine 16-Millimeter-Kopie erfolgreich als Pralinenschachtel getarnt.

Forumschef Christoph Terhechte, der 2001 den Forumsgründer Ulrich Gregor ablöste, war für die diesjährige Berlinale in Kanada, in den USA, in Korea, in Festland-China, Hongkong, Taiwan, Japan, Frankreich und Belgien, außerdem besuchte er Festivals in Norwegen, Lissabon und Buenos Aires. Klar, man kann sich DVDs schicken lassen, und überall auf der Welt gibt es Berlinale-Scouts. Aber wegen der zunehmenden Konkurrenz im internationalen Festivalzirkus wird der persönliche Kontakt immer wichtiger. Ein Regisseur gibt seinen Film lieber jemandem, dem er vertraut. Diese Glaubwürdigkeit, sagt Terhechte, verschafft man sich nur vor Ort.

JETLAG

Man fällt aus dem Flugzeug und der Jetlag geht nicht weg, denn dagegen hilft nur die Sonne. Aber die bekommt der Festivalreisende kaum zu Gesicht. Dorothee Wenner, die für die Berlinale regelmäßig nach Indien und Afrika aufbricht, nennt es Reisen im Dunkeln. Nach der Landung verschlägt es einen gleich in den Vorführraum, man guckt tagelang Filme und hat keine Zeit für die Stadt drum herum.

ESSEN GEHEN

Trotzdem ist die Chance groß, auch etwas von der Welt zu sehen, von der die Filme erzählen. Und das Essen, das in den Filmen zubereitet wird, kann man gleich selbst probieren. Wobei es Essenseinladungen vonseiten der Produzenten beherzt auszuschlagen gilt, zumindest wenn das Essen nach der Sichtung stattfindet. Es könnte ja sein, dass man den Film gar nicht einladen möchte. Die hohe Schule der Diplomatie verlangt also die Reihenfolge: erst Essen, dann Film. In manchen Ländern ist es noch komplizierter. „Wenn du hier in Deutschland eine Produzenteneinladung annimmst, giltst du schnell als korrupt. In China musst du sie annehmen, sonst ist es ein Affront“, sagt Terhechte.

GASTGESCHENKE

Der Festivalreisende hat einen Koffer voller Geschenke dabei: Berlinale-Mützen, Berlin-Bücher, Schokolade – wobei in Asien die schöne Verpackung meist wichtiger ist als der Inhalt. Das bedeutet Spesen, die man nicht abrechnen kann, denn das Bundesreisekostengesetz sieht Gastgeschenke nicht vor. Das schönste Geschenk, das die Gregors je umgekehrt erhielten, ist übrigens eine waschechte 35-Millimenter-Kopie von Coppolas „The Conversation“. Sie verdanken es dem Produzenten Tom Luddy, der ihnen beichtete, dass der Film in Amerika einfach nicht lief und nagelneue nutzlose Kopien existieren. Es müsste nur jemand die Filmrollen in Kalifornien abholen. Also transportierte der damalige Mitarbeiter Alf Bold eine 35-Millimeter-Kopie nach Berlin. Der Zollbeamte ließ ihn erst durch, als Bold behauptete, es sei ein Film, an dem er selbst mitgewirkt habe.

DIE GLOBALE FAMILIE

Der Festivalreisende kehrt mit einer Extratasche voller DVDs und Kataloge zurück – und mit neuen Freundschaften. Mitbegründerin Erika Gregor, die langjährige „Mutter“ des Forums, nennt es ihre Filmfamilie. Ein Bruder, erklärt sie, das ist einer, den man getrost zu Hause bei sich wohnen lassen kann. Naum Kleiman aus Moskau ist so ein Bruder der Gregors, Bela Tarr aus Budapest, Sabu aus Japan – und Aki Kaurismäki natürlich (siehe S. 5).

JAPAN

Japan stand schon bei den Gregors ganz oben auf der Liste, jedes Jahr fuhren sie gemeinsam nach Tokio. Wie den anderen Festivalmachern zeigte Madame Kawakita ihnen mögliche Forums-Kandidaten, die Gregors waren die fleißigsten. Ab zehn Uhr morgens sitzen sie im Vorführraum, zu Mittag lassen sie sich Tee und eine Lunchbox bringen, und wenn der Vorführer abends um sechs nach Hause geht, gucken sie in Frau Kawakitas Büro weiter, bis 22 Uhr, dann wird abgeschlossen. Im Hotelzimmer sichten sie weiter, auf einem Videorekorder. Auch Christoph Terhechte ist von Japan so fasziniert, dass er die Sprache lernt. Wegen der Parallelen zwischen der deutschen und der japanischen Geschichte, und natürlich wegen der Meisterwerke eines Kurosawa, den er als angehender Journalist einmal interviewt hat. Terhechte sitzt in München im Bayerischen Hof und löchert den Meister, bis der zu ihm sagt: „Junger Mann, um die Schönheit einer Vase zu begreifen, braucht man sie nicht zu zerbrechen.“

KOREA

Die erste Festivalreise nach Korea unternimmt Terhechte gemeinsam mit Festivaldirektor Dieter Kosslick und Panorama-Chef Wieland Speck. Das Trio landet am Abend in einem Lokal in der Festivalstadt Pusan, in dem keiner Englisch kann. Wie nun erklären, dass Kosslick Vegetarier ist und keinen Essig verträgt? Mit ein paar Brocken Japanisch klappt es schließlich, auch wenn das die Deutschen beschämt. Die älteren Leute in Korea können nur deshalb Japanisch, weil sie als Kinder die Sprache lernen mussten, zur Zeit der japanischen Besatzung.

MOSKAU

Anfang der 80er Jahre. Die Gregors wollen wissen, wie lange Breschnew es wohl noch macht. Die Freunde sagen, ach, das Wetter ist so schön, lass uns spazieren gehen. In keiner anderen Stadt der Welt sind die Gregors so viel spazieren gegangen, um gefahrlos die politische Lage erörtern zu können. Als einmal das Gerücht von einem klandestinen, großartigen Film geht, der im Gebäude von Sowexport gezeigt werden soll, macht sich Ulrich Gregor gemeinsam mit einem britischen Filmkritiker auf die Suche. In allen Stockwerken öffnen sie Türen, finden sich am Ende vor einer Leiter, klettern auch diese empor, stemmen eine Falltür auf – und stehen auf dem Dach von Sowexport. Schöne Aussichten, wenn auch nicht auf einen Forumsfilm.

BOMBAY

Bis in die späten 90er Jahre haben westliche Filmfestivals die Qualitäten des Bollywood-Kinos schlicht übersehen. Dorothee Wenner will das unbedingt ändern und Bollywood-Produktionen auf die Berlinale bringen. Aber Rache muss erst mal sein: Sie wird in Mumbai in Produktionsbüros bestellt, dort stundenlang auf Sofas geparkt, wo sie mit den Tanten und Müttern der Stars Tee trinkt und plaudert – um die Filmauswahl am Ende mit raubkopierten VHS-Kassetten zu bewerkstelligen. Auch ein normaler Kinobesuch ist nicht ohne Weiteres möglich. Die Filme sind lange vorab ausverkauft, die Schwarzmarktregeln schwer durchschaubar. Am Ende besorgt ein befreundeter Taxifahrer die Tickets. Als im Jahr 2000 Regisseur Sanjay Leela Bhansali als erste Bollywood-Größe nach Berlin kommt, ist er so nervös, dass er während der Vorführung zwei Schachteln Marlboro raucht.

LOST IN TRANSLATION

Ulrich Gregor in Rio de Janeiro. Die Informationspolitik des Festivals ist chaotisch, wiederholt landet er im falschen Kino. Gregor seufzt, das sei ja wie ein Lotteriespiel, bloß dass man immer verliert. Lotterie? Prompt schleppt ihn ein Brasilianer um die Ecke zu einem Laden, in dem Lose verkauft werden. Missverstehen kann man sich auch ohne Sprachbarriere: Der indische Regiemeister Mrinal Sen wird mitten auf der Budapester Straße – die Berlinale findet noch rund um den Zoo-Palast statt – von den eigenen Landsleuten verkannt. Ausgerechnet er, ein linker Rebell, gerät in eine Gruppe von HareKrishna-Jüngern. Die wollen ihn agitieren, aber Mrinal Sen ruft ihnen zu: Viva la Revoluçion!

BRUTKASTEN

2004 läuft im Forum ein Film des finnisch-nenzischen (die Nenzen sind ein Eskimovolk in Sibirien) Ehepaars Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio, die auch dieses Jahr dabei sind, in der Reihe Generation. Im Film von 2004 spielt ihre Nichte mit, sie ist im fünften Monat schwanger – was Onkel und Tante aber nicht wissen. Sie hat eine Frühgeburt im Virchow-Krankenhaus; monatelang kümmern sich die Russisch-Dolmetscherinnen mit großer Begeisterung um Mutter und Kind. Heute ist Ilmari ein properer Bursche. Die Berlinale als Lebensretter: Zu Hause am nördlichen Polarkreis wäre kein Brutkasten in der Nähe gewesen.

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