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Festspiel-Saison: Der Kleister der Klassik

Wie geht’ s den alten Meisterwerken, wozu ihnen treu sein? Bemerkungen zum Ende der Festspiel-Saison.

Unlängst veranstaltete das Kulturradio des RBB einen „Hörerstreit“ zur Frage, ob man heute noch Homer gelesen haben muss (nicht im griechischen Original, sondern überhaupt). Gemeint waren auch, aber nicht nur, Schüler und Heranwachsende, die gute alte Allgemeinbildungsmisere also im Land der Dichter und Denker. Tendenz des Hörerechos: och nö. Wir Alten, ja, wir mussten noch, aber die Jungen: wozu? Was soll ihnen eine „Ilias“ oder „Odyssee“, geschrieben vor mehr als 2000 Jahren, von einem Künstler, der real vielleicht nie existiert hat, sagen? Was anfangen mit mühselig verwickelten Geschichten über königliche Irrfahrten und kriegerische Götter, warum antike Versmaße skandieren, wenn uns die Jo-Jo-Kurven der Finanzkrise, der Terror der Taliban oder das Grinsen der Doping-Helden im Berliner Olympiastadion längst ganz andere Fähigkeiten abverlangen?

Das ist jetzt natürlich ein bisschen platt. Dennoch sind all diese Fragen selbst der beste Beleg dafür, was passiert, wenn eine Gesellschaft „ihren“ Homer nicht mehr liest. Sie verroht, wird kindisch und banal-brutal, sie vergisst, was es heißt, sich in etwas Fremdes (eine fremde Sprache oder Zeit, eine ästhetische Form, ein spezifisches Genre) einzufühlen, sie gibt ihr Gedächtnis und ihre Kultur preis und entkleidet sich – aus Faulheit, aus Langeweile? – der fabelhaften Möglichkeit, das Leben zu üben. Wer Bücher liest, Theater oder Kino guckt, Musik hört, der spielt im Kopf durch, was passieren könnte. Und muss nicht gleich zum Hammer greifen, um eine Situation, einen Konflikt zu lösen. Wie angenehm. Ein selbstverständlicher Luxus wie sauberes Wasser aus der Leitung.

Kunst als Triebsublimierung: Die alten Griechen nannten das Katharsis, Reinigung, und gerade in den nichtdarstellenden Künsten, der Literatur, der Bildenden Kunst, dürfte das, rein theoretisch, bis heute funktionieren. Es hindert mich ja niemand daran, „meinen“ Homer zu lesen, mich „meinem“ Tintoretto oder Klee hinzugeben, ich muss nur irgendwann in Erfahrung bringen, dass es sie und ihre Werke gibt. Dazu kann ich mehr oder weniger prädestiniert sein, von Haus aus Privilegien genießen, Glück haben, besonders neugierig sein oder nichts von alledem. Dass Bildungspolitik derzeit hauptsächlich als Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten, als Harmonisierung von Wissenden und Unwissenden aufgefasst wird, zeigt, auf welcher Schwundstufe unserer ehedem so reichen, so lebendigen abendländischen Tradition wir angelangt sind.

Längst ist die Homer-Frage auch eine Shakespeare-, Goethe-, Dürer-, Mozart-, Wagner- und Picasso-Frage. Nur stellt sie niemand, aus Feigheit oder schlechtem Gewissen. Man will sich schließlich nicht barbarischer machen, als man ist. Dabei wären – und hier wird’s spannend! – Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis die ersten Voraussetzungen für eine Besinnung. Dabei gäbe es keine größere Provokation zur Kunst hin, als zu sagen, was geht sie uns noch an, wir kapitulieren, schlagen das Erbe aus, ein für allemal. Genug der Leichenfledderei.

In den darstellenden Künsten ist diese Schieflage eklatant. Dort tun wir nur mehr so, als nährten die hoch gerühmten Klassiker unsere geistige Existenz. Schauspiel und Musiktheater, die den professionellen, den repräsentativen Vermittler brauchen, bringen die Entfremdung an den Tag. Blicken wir nur einmal auf den seinem Ende entgegendämmernden Festspielsommer ’09: War da was? Ein bisschen Kinderoper und Medien-Hokuspokus in Bayreuth, die übliche gepflegte Ausgrabung in Bregenz, ein intellektualistisches Mythen-Stochern in Salzburg und vielleicht noch das eine oder andere arrivierte Konzert an weniger prominenten Orten – und dann, natürlich, die lauwarme Regietheater-Debatte, die der Schriftsteller Daniel Kehlmann gleich zu Beginn vom Zaune brach. Sie muss im Nachklapp, schmählich genug, als das Ereignis der Saison gewertet werden.

Kehlmann, der nicht von der Bühne her kommt, wohl aber einen Regisseursvater hatte, den es vor den Entleibungen wild gewordener ’68er und aus Sohneskraft posthum zu retten galt, mag in erster Linie persönlich argumentiert haben. Interessant ist vor allem, dass der Reflex diesmal nicht funktionierte: Jener verlässliche Reflex, der die Verfechter eines mehr oder weniger drastischen Regie-Rabaukentums auf die eine Seite der Barrikade trieb und die ach so zahnlosen „Werkgetreuen“ auf die andere. Da standen sie also und hauten sich in den vergangenen 40 Jahren immer wieder die Köpfe ein. Herrlich, frohlockte die Kulturnation, unser Theater blutet, es brennt, es lebt!

2009 (und nicht erst jetzt) scheinen diese Kämpfe ausgekämpft. Müdes Abwinken in der Runde der üblichen Verdächtigen: Worüber reden, wenn sich das Schauspiel im Kometenschweif eines Jürgen Gosch, Christoph Schlingensief und Dimiter Gotscheff just auf eine neue Ernsthaftigkeit besinnt und „Theater heute“ mit einem Heft über Chöre (!) in die Spielzeit 2009/10 startet, ja wenn sogar die Oper – Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ in Salzburg bot dafür ein glänzendes Beispiel – etwas wagt, das das Hamsterrad der konkurrierenden Klassikerinterpretationen zumindest versuchsweise anhält? Einerseits, aus dem Inneren der Branche betrachtet, ist das sicher richtig und verständlich.

Andererseits hätte man natürlich reden können. Zum Beispiel über die ebenso merkwürdige wie sinnfällige Allianz zwischen Jung und Alt. So findet Daniel Kehlmann, 34, ausgerechnet in Joachim Kaiser, 80, einen gönnerhaften Bruder im Geiste. „Ist Werktreue wirklich Faulheit?“, fragt der große J. K. in Anlehnung an den noch größeren Kortner in der „Süddeutschen Zeitung“ und macht sich zum mahnenden Anwalt einer „originellen Vergegenwärtigungsfreiheit“ auf der Bühne. Ohne „Demut vor großen Texten“ allerdings, so Kaiser, ohne „ordnende Begriffe“ im Ästhetischen verschwände „hierzulande eine liebenswerte Tradition, die im von Internetfaszination und TV-Allgegenwärtigkeit beherrschten 21. Jahrhundert ohnehin heftig ums Überleben kämpfen muss“. Erlaubt ist, was sich ziemt? Die Errungenschaften des Abendlands: bloß „liebenswert“?

Derlei k.u.k. Schulterschlüsse zwischen den Generationen bleiben gewiss nicht auf die Kunst, das Theater beschränkt. Das Konservative, Bewahrende, Schützende ist den Alten, die ihre ideologischen Grabenkämpfe geführt haben, mindestens so nah wie den Jungen, die von all dem nichts wissen wollen. „Weil sie keine klar definierten Feindbilder mehr haben und nicht mehr in den lange üblichen Täter/Opfer-Strukturen denken, darf man von den jungen Regisseuren keine großen, lauten Gesten des Protests erwarten“, schreibt die Regisseurin und Hochschullehrerin Barbara Beyer in der aktuellen Ausgabe der „Opernwelt“. Die Konsequenz daraus? Für diese Jungen, zehn Jahre jünger als Kehlmann & Co. und in der subventionierten Theateröffentlichkeit noch nicht sichtbar, liegt die Schwierigkeit darin, in der Kunst durch die Kunst überhaupt noch zu konsistenten Aussagen zu gelangen und zu einer gesellschaftlichen Kommunikation. Für sie sind die alten Fronten zwischen „Deutungstheater“ – auch in seiner dekonstruierenden, dekonstruierten Form – und „Buchstabentreue“ längst obsolet. Sie fragen grundsätzlich. Indem sie die ausgetrampelten Pfade des Interpretierens von (literarischen, dramatischen, musikalischen) Texten ostentativ verlassen, thematisieren sie ein Unbehagen, ihr Unbehagen, unser Unbehagen – und legen den Finger in die Wunde. Sicher tiefer, sicher politischer, als ihnen lieb und bewusst ist.

Noch brauchen die heute 25-Jährigen dafür „ihren“ Homer, Shakespeare, Mozart, Wagner und Luigi Nono, als Sprungbrett, Steigbügel, Reibungsfläche. Eines nicht allzu fernen Tages aber werden sie ihn nicht mehr brauchen. Jenseits von allem Nabelschaulichen, das solch performativen Selbstfindungsbestrebungen innewohnt, könnte es ihr Verdienst sein, ein Einverständnis aufgekündigt zu haben, das schon lange keins mehr ist – das (bürgerliche) Einverständnis, dass es auf der Bühne die nächsten 2000 Jahre so weiter geht mit dem „Faust“ und der „Zauberflöte“, mit der Wahrheit des Repertoires und dem Glück der Exegese, mit dem Erzählen von Geschichten und der Suche nach der richtigen Ästhetik. Unsere geliebten Meisterwerke altern jeden Tag, wenig Neues wächst nach. Am Alten Museum in Berlin hängt der Spruch „All Art Has Been Contemporary“ – alle Kunst ist zeitgenössisch. Wir sollten das nicht als Drohung verstehen.

Christine Lemke-Matwey

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