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Feuer und Blut. Die schwedische Musikerin Fever Ray, 42.

©  Martin Falck

Fever Ray live in Berlin: Utopie durchbricht Beton

Queer-feministischer Electro-Pop: Karin Dreijer alias Fever Ray hat ihr grandioses Album „Plunge“ in der Berliner Columbiahalle vorgestellt.

Echte Überraschungen sind selten geworden im Pop. Jeder Sound scheint schon dreimal durch die Retro-Maschine genudelt worden zu sein und selbst unangekündigte Albumveröffentlichungen sind mittlerweile Alltag – inszeniert nach sorgsam ausgeklügelten Marketingplänen.

Umso länger bleibt es im Gedächtnis, wenn man doch mal einen wirklichen Wow-Moment erlebt. Einer davon liegt knapp fünf Jahren zurück: Das schwedische Elektro-Duo The Knife trat in der Berliner Columbiahalle auf, die Geschwister Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer sprangen zusammen mit sieben Begleiterinnen und Begleitern über die Bühne, wobei sie seltsam geformte Instrumente bedienten. Doch als nach zwanzig Minuten alle die Arme hochrissen und die Musik trotzdem weiterlief, war klar: alles Fake. Und gleichzeitig eine geniale Umsetzung ihres bei Foucault geborgten Albumtitels „Shaking The Habitual“ – sie rüttelten an den Popmusik-Konventionen.

The Knife verabschiedeten sich mit dieser Tour, von den Geschwistern war lange nichts zu hören. Bis Karin Dreijer – nach ihrer Scheidung legte sie den Namen Andersson ab – Ende Oktober ihr zweites Soloalbum „Plunge“ (PIAS) veröffentlichte, ohne Ankündigung und nur digital. Erst seit einer Woche gibt es auch eine CD- und eine Vinylversion. Es gab weder eine Promokampagne noch Interviews.

Es geht um Sex und Politik

Dieses dezente Vorgehen steht in Kontrast zum Inhalt der Platte, die bis in den letzten Takt erfüllt ist von einer nervösen, aufrührerischen Energie. Die Synthesizer sind im Daueralarmzustand, die Beats rütteln und zucken, als wollten sie aus Käfigen ausbrechen, hinzu kommt der immer wieder in eine aggressive Schärfe kippende Gesang. Das zunächst unzugänglich wirkende Werk mit der programmatischen Eröffnungszeile „I wanna love you but you’re not making it easy“ erweist sich mit etwas Geduld als faszinierend vielschichtiges Pop-Manifest, in dem Dreijer Persönliches und Politisches stimmig verbindet. Immer zwischen Protest- und Lustschrei gelingen ihr 45 Minuten voller Wows.

War „Shaking The Habitual“ noch etwas zu verkopft, kommt jetzt mehr Intimität und Privates ins Spiel. Es geht auf „Plunge“ viel um Sex, queeren, oft harten Sex, der als widerständige Kraft gegen die Hetero-Norm gefeiert wird. „Every time we fuck we win“, singt die 42-Jährige, die sich als genderfluid bezeichnet und in einem ihrer wenigen Interviews freimütig von ihren Tinder-Dates mit Frauen gesprochen hat.

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In Videos zu den neuen Songs tritt Fever Ray als glatzköpfiges Grinsewesen mit dunkel umrandeten Augen und überschminktem Mund auf. Diesen Look hat sie auch für ihren Auftritt in der ausverkauften Columbiahalle gewählt. Sie trägt kurzrasierte Haare, hohe weiße Schnürstiefel, eine kurze, nach Babywäsche aussehende Hose und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I love Swedish girls“, wobei „Swedish“ durchgestrichen ist. Zwei ebenfalls wie in den Videos kostümierte Sängerinnen begleiten sie, dazu zwei Schlagzeugerinnen und eine Keyboarderin, die ihre Instrumente tatsächlich spielen. Zusätzliche Spuren – vor allem Beats – kommen von Festplatte.

Sie starten mit dem dynamisch lospolternden „An Itch“, in dem sich die Sängerinnen am Ende in die ständig wiederholte Zeile „Imagine touched by somebody who loves you“ hineinsteigern. Womit sie andeuten, dass mit dem plötzlichen Fall, der dem Album den Titel gibt, ein Sturz in die Liebe gemeint ist. Ihr gilt die geheime Sehnsucht dieser Platte – doch bevor sie sich erfüllen kann, gibt es noch viel zu fordern. So reihen sich Fever Ray und ihre Sängerinnen bei „This Country“ nebeneinander auf, recken die Fäuste in die Luft und skandieren zu Störgeräuschen und aufheulenden Synthies: „Free abortions and clear water/ Destroy nuclear/ Destroy boring“.

Die Bässe wollen die Wände einreißen

Mit „nuclear“ ist die traditionelle Kernfamilie gemeint, die Karen Dreijer – sie hat zwei Töchter – aus eigener Erfahrung kennt und gegen die sie jetzt die Utopie einer selbst gewählten Familie setzt. Auf ihrem Solodebüt von 2009 verarbeitete sie noch die Frustration über ihre soziale Isolation als Mutter. Besonders anschaulich in „Concrete Walls“, das sie in der Mitte des Konzerts spielt. Die Bässe wollen die Wände einreißen, die verzerrte Stimme ist von Trauer erfüllt. Ein anrührender Augenblick, genau wie das zuvor im roten Licht aufgeführte „Red Trails“, bei dem die Keyboarderin ans Akkordeon wechselt. Sie übernimmt das auf dem Album von einem Streichinstrument gespielte Intro, um dann zu Drone-Sounds überzugehen, während Dreijer zusammen mit der als Muskelfrau verkleideteten Sängerin Gutarra von der Vergeblichkeit eines Liebeswunsches singt – großes Schmerzenskino zu sanften pochenden Beats.

Kühl und kontrolliert, aber nicht verstörend wie das Album

In diesen ruhigeren und auch in den immer wieder eingestreuten poppigen Passagen überzeugt die nur knapp 80-minütige Show am meisten. Wobei es schade ist, dass die sechs Frauen es nicht schaffen, die verstörende Kraft von „Plunge“ auf die Bühne zu übertragen. Kühl, kontrolliert, grußlos und ohne rechte Übergänge reihen sie die Songs aneinander, wobei selbst das explosive „IDK About You“ nahezu verpufft. Großartig dafür die majestätische Version von „If I Had A Heart“ als erste Zugabe. Vorgetragen mit drei Akustikgitarren, von denen man zwar nichts hört, die aber die folksonghafte Melodieführung betonen. Ein herzerwärmender Moment gegen die Kälte dieser letzten Februarnacht.

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