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Kultur: Figaro am Polarkreis

Seit 1912 jedes Jahr im finnischen Sommer: Das Opernfestival von Savonlinna

Wer in Savonlinna landet, dem verwirren sich die Sinne. Beim Blick aus dem Kabinenfenster sieht man Wälder, Felsen und gewaltige Wasserflächen. Ist dies der Anflug auf ein Meer mit sehr vielen Inseln oder auf ein Land mit sehr vielen Seen? Tatsächlich handelt es sich um einen einzigen See, den größten Finnlands. Der SaimaaSee, beim Rückzug eiszeitlicher Gletscher entstanden, zerfällt in viele tausend kleinere Gewässer, die alle miteinander verbunden sind und vom Flugzeug aus in der Nachmittagssonne glitzern – eine innige Durchdringung von Wasser und Land. Und mitten drin, 350 Kilometer nordöstlich von Helsinki, liegt Savonlinna wie ein letzter Gruß der Zivilisation, bevor die Wälder Lapplands beginnen und irgendwann der Polarkreis kommt.

Hier also, in einer Kleinstadt von 26 000 Einwohnern, findet alljährlich Finnlands berühmtestes Opernfestival statt – und das schon seit fast 100 Jahren. Dass die überwältigende Landschaft und die mächtige Ausstrahlung der Burg Olavinlinna eine unschlagbare Kombination ergeben würden, war schon der Gründerin, der Sopranistin Aino Ackté, bewusst. Also veranstaltete sie 1912, nachdem sie kurz zuvor die finnische Nationaloper in Helsinki gegründet hatte, erstmals zur besten Jahreszeit im Juli Opernfestspiele im Hof der Burg. Diese war ab 1475 von den Schweden auf einer Felseninsel im See als Grenzbefestigung zu Russland errichtet worden. Obwohl das Bauwerk mehrmals den Besitzer wechselte, wurde es nie grundlegend zerstört, so dass es heute zu den am besten erhaltenen mittelalterlichen Festungen Nordeuropas gehört.

Besucher erreichen die Burg nur über einen langen Steg. Wer durch das Tor tritt, lässt das Reich der Natur hinter sich und betritt das Reich der Kunst. In den Anfangsjahren der Festspiele erklangen hier nur finnische Werke von Erkki Melartin, Oskar Merikanto oder Fredrik Pacius. Das hat sich gründlich geändert. Heute wird das Repertoire vom Mainstream dominiert. Dieses Jahr stehen etwa „Carmen“, „Figaros Hochzeit“ oder „Madame Butterfly“ auf dem Spielplan. „70 Prozent unserer Einnahmen stammen aus Kartenverkäufen“, sagt Festspielleiter Jan Hultin, „da müssen Sie die Juwelen anbieten.“

August Everdings Inszenierung der „Zauberflöte“ ist seit 27 Jahren im Programm. Trotzdem werden immer wieder auch finnische Opern uraufgeführt. Ein neuer Gesangwettbewerb soll Talente finden. Übernahmen von Inszenierungen aus Schanghai oder Moskau zeigen, wie wichtig das Festival international genommen wird. Inzwischen kommen 20 Prozent der Gäste aus dem Ausland. 2012, zum 100-jährigen Jubiläum, will Jan Hultin das Publikum auf gewagte Weise in den künstlerischen Entstehungsprozess integrieren: durch das Internet-Projekt „Opera by you“, bei dem Libretto, Partitur und Inszenierung von der Schwarmintelligenz der Online-Gemeinschaft geschaffen werden sollen – allerdings unter Aufsicht eines professionellen Komponisten.

Vorerst bleibt es aber bei traditionellen Aufführungsformen. Der Burghof wird von gewaltigen Mauern und zwei großen Freitreppen gesäumt, die das Bühnenbild prägen, aber auch die Gefahr von Gleichförmigkeit bergen. Denn sie lassen sich nicht einfach weginszenieren, sondern müssen in jede Vorführung integriert werden. Bei der Premiere von „Tosca“ will Regisseur Keith Warner dieser visuellen Übermacht mit einem Friedhof aus steinernen Mausoleen etwas Ebenbürtiges entgegensetzen, was aber die massive Wirkung nur verdoppelt. Henry Akina, der Gründer der Berliner Kammeroper, geht in seiner 2009 entstandenen Inszenierung von Puccinis „Madame Butterfly“ eleganter mit den Gegebenheiten um. Ihm genügen einige Wände aus Papier, um die Atmosphäre aufzulockern und japanisches Ambiente zu schaffen. Auch sängerisch hinterlässt seine Inszenierung den besseren Eindruck. Während Yekaterina Shimanovich als Tosca und Avgust Amonov als Cavaradossi wie ein ergrautes Ehepaar wirken, sprüht Inna Los als Cio-Cio-San vor Leben. Wie sich auf ihrem Gesicht jeder Schatten von naiver Überraschung, jede Grimmigkeit niederschlägt, wie sich ihr Sopran gleich einem Sonnensegel in der Höhe auffaltet – das hat Klasse.

Noch ganz mitgenommen kehrt man zurück ins Hotel, vorbei an Felsen, die sanft wie Sandstrände ins Wasser gleiten, während der Himmel in den weißen Nächten auch um Mitternacht hell bleibt. Dieser Ort kennt viele Wege, die Sinne nicht zur Ruhe kommen zu lassen.

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