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Ausgebüchst. Die finnische Regisseurin Kirsi Liimatainen 1988 – als FDJ-Hochschülerin beim verbotenen Ausflug in einen Dresdner Jugendclub.

©  Ilanga Films

Film-Doku "Comrade, Where Are You Today?": Genossen aller Länder, erinnert euch!

Sie kamen als Gaststudenten in die DDR, aus Chile, Bolivien, Südafrika. Oder aus Finnland, wie Kirsi Liimatainen. In ihrer Doku "Comrade, Where Are You Today?" fragt sie die Ex-Kommilitonen: Was ist von euren Träumen geblieben?

Am Bogensee, mitten im Wald nahe Wandlitz, studierten zu DDR-Zeiten an der FDJ-Hochschule Wilhelm Pieck junge Kommunisten aus über 80 Ländern das Theoriegerüst des Marxismus-Leninismus. Abgeschieden vom DDR-Alltag und seinen Reiseverboten lebte ein buntes Völkchen in der heute im Dornröschenschlaf liegenden Anlage, unter ihnen viele Delegierte aus Krisengebieten, Kampfzonen und Untergrundbewegungen, die nicht ihre Klarnamen trugen.

Bis zum Sommer vor dem Mauerfall träumte auch die damals 20-jährige Finnin Kirsi Liimatainen, Tochter einer Familie aus der finnischen Arbeiterbewegung, ihren Traum, mit dem geistigen Rüstzeug kommunistischer Parteischulung zu einer besseren Welt beitragen zu können. Abgesehen vom Büffeln in Sachen dialektischer Materialismus und ihren immer dringlicheren, in Briefen überlieferten Fragen nach der Realitätstüchtigkeit der Parteidoktrin muss das Studienjahr mit all diesen Weltbürgern Spaß gemacht haben. Kirsi Liimatainens Fotoalbum jedenfalls erzählt von Festen, Flirts und guter Laune.

Wessen Brot isst du? Wen liebst du?

Nun kehrte, 25 Jahre nach dem Ende der DDR, die inzwischen renommierte Filmregisseurin an den Bogensee zurück. Thema ihres autobiografischen Dokumentarfilms „Comrade, where are you today?“ ist nicht der Ort und seine verzwickte symbolische Hypothek. (In die ehemalige FDJ-Immobilie sind auch Teile des Landhauses von Josef Goebbels integriert.) Man schaut Kirsi Liimatainen vielmehr über die Schulter, wie sie Namen und Adressen einstiger Freunde ausfindig zu machen versucht und sich auf eine Reise in deren Heimatregionen begibt.

Was, fragt sie, hat der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im Alltag und in den Überzeugungen von Lucia in Bolivien, Esteban in Chile, Nabil im Libanon und Mateo in Südafrika bewirkt? Wessen Brot essen sie heute? Wen lieben sie?

„Comrade, where are you today?“ gelingt eine anschauliche Tour d’horizon durch die Lebensentwürfe von vier selbstbewussten Skeptikern. Die formelhafte Großtheorie des kommunistischen Internationalismus taugt angesichts von globalisierter Ausbeutung, Rassismus und asymmetrischen Kriegen nichts mehr, erklären sie für ihre jeweilige konkrete Situation überzeugend – und doch fühlen sie sich Kirsi Liimatainens Traum von der besseren Welt immer noch verbunden.

Lucia, Nabil, Esteban: allesamt wache Zeitgenossen

Da ist Lucias Einsatz für die Bewegung der bolivianischen Indigenen und deren Kampf gegen internationale Konzerne, die das Trinkwasser privatisieren. Da ist Estebans Idee einer Volkshochschule und seine praktische Unterstützung für die politische Studentenbewegung Chiles. Oder Nabils libanesische Großfamilie, die inmitten des Machtbereichs der Hisbollah ihren weltoffenen säkularen Lebensstil verteidigt und Gehirnwäsche jeder Couleur ablehnt. Und Mateos Witwe in Soweto findet deutliche Worte gegen die Vetternwirtschaft der einstigen schwarzen Befreiungsbewegung.

Kirsi Liimatainen suchte Menschen, die nach den klandestinen Regeln am Bogensee offiziell gar nicht existierten. Was sie fand, sind äußerst wache Zeitgenossen, die sich von ihrem pseudoreligiösen Glauben an der FDJ-Hochschule emanzipiert haben.

In berlin in den Kinos Babylon Mitte, Eiszeit, Moviemento und Hackesche Höfe (alle OmU)

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