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Tierisch, diese Tretboote. Lana (Ladya Cheryl) reist gern poetisch.

©  Neue Visionen Filmverleih

Film: Mein Zuhause, der Zoo

Märchenland für Tagtraumtänzer: In „Die Nacht der Giraffe“ erzählt der Indonesier Edwin die poetische und rätselhafte Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Frau

Die Giraffe ist ein ganz besonderes Tier. Ihre Zunge ist so lang, dass sie die Ohren damit reinigen kann. Der Hals misst eineinhalb Meter, das braucht sie für ihre Stabilität, denn sie bevorzugt den Parallelgang – ziemlich wackelige Angelegenheit. Setzen tut sie sich so gut wie nie. Die Griechen und Römer glaubten, es handele sich um eine Kreuzung aus Kamel und Leopard. Es stimmt, die Giraffe kann ganz schön gefährlich werden, ist sie doch in der Lage, mit nur einem Tritt einen Löwen zu töten.

Lana weiß alles über die Giraffe, dieses stolze, elegante, rätselhafte Wesen, das man so leicht verkennt. Lana lebt im Zoo von Jakarta, seit ewig. Ihr Vater hat sie dort ausgesetzt, als kleines Mädchen mit blinkenden Sneakers und rosa Rucksack, nachts, allein unter Bäumen, ein Angstbild, ein Märchenbild auch: Was gibt es Schöneres, als im Zoo aufzuwachsen, diesem Abenteuerspielplatz und Park der Sensationen. Zumal im Zoo von Jakarta mit seinen trötenden Elefanten, den klappernden Pelikanen und herumspazierenden Entenküken, den großen, bunten Tierskulpturen, der Dino-Kinderachterbahn, dem schneeweißen Besucherbus in Käfergestalt und den quietschenden Schwanentretbooten, von denen die Farbe abblättert.

Lana (Ladya Cheryl, ein Star in Indonesien) ist zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, „Die Nacht der Giraffe“ erzählt ihre Coming-of-Age-Geschichte. Ein Film, so poetisch und rätselhaft wie eine Giraffe: über die gefangenen Tiere im Zoo, ihre offiziellen und inoffiziellen Wärter, lauter Verlorene, Nachtgestalten, Tagtraumtänzer, Wesen mit Migrationshintergrund. Scharen von Illegalen leben hier, einer von ihnen nimmt Tierstimmen auf und sampelt sie mit Lanas Giraffen-Lektionen zum Geister-Rap.

„Wenn das Verlustgefühl ein Ort wäre, dann wäre es der Zoo“, sagt Regisseur Edwin. Der 34-jährige Indonesier, der sich nur mit Vornamen nennt, hat seit seinem Spielfilmdebüt „Blind Pig Who Wants to Fly“ Kultstatus in der Independent-Szene. Schon in „Blind Pig ...“ ging es um Entwurzelte, um die schlechte Lebenssituation von Indonesiern in China; mit „Postcards from the Zoo“ (so der internationale Titel des „Giraffen“-Films)nahm Edwin 2012 am Berlinale-Wettbewerb teil.

Der Zoo als Refugium für Unbehauste, als magischer Ort voll seltsamer Geräusche. Inserts erläutern Fachbegriffe wie „endemisch“ oder „Auswilderung“, es wird wenig gesprochen. Selbst als eines Tages ein Cowboy auftaucht, ein junger Mann, der vom Pferd steigt, um Taschentücher und Feuerbälle schweben zu lassen. Lana ist bezaubert, er lockt sie nach draußen, vor die Mauern, ins wirkliche Leben – um sich dort alsbald per Autodafé-Trick in Luft aufzulösen. Lana arbeitet fortan im Sexmassagesalon, statt Pelz und Gefieder reibt sie nun Männerhaut ab: kein Realitätsschock, kein Prostitutionselend, der Film belässt Lana ihre fragile Würde. Und sei es, indem sie wie vom Kunden gewünscht ins Leopardenkostüm schlüpft, um sich zugleich in die Schutzhülle ihrer fantastischen Tierwelt zu begeben. Lana sehnt sich zurück in den Zoo, dieses Märchenland für Unbehauste, und stiehlt sich wieder dorthin. Eine weißgewandete Prinzessin der Nacht unter dem Bauch der Giraffe, so hört es auf. Endlich ist Lana groß genug, ihn zu berühren – und nicht nur den Plastikbauch von deren synthetischer Schwester.

Der tropische Regen, wie er auf Elefantenhaut prasselt. Ihre flappenden Ohren. Das von kleinen Höckern übersäte Fell der Giraffe. Die zeitlupenlangsame Bewegung der Flusspferde. Der Wind in den Bäumen, die Vogelstimmen bei Nacht, die Schulkinder, die Tiernamen aufsagen – Edwin ist ein Meister der Momentaufnahme, des wundersamen, betörend-befremdlichen Augenblicks. Der Mensch ist ein verlorenes Tier, sagt sein Film. Und dass es immer noch die Giraffe gibt, unter deren Bauch man sich retten kann, wenn es plötzlich zu regnen beginnt.

Filmkunst 66, Lichtblick, Moviemento; OmU: Hackesche Höfe, Lichtblick und Moviemento

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