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Regisseur Stephan Geene und Musiker Elliott McKee, der in "Umsonst" mitspielt.

© Mike Wolff

Film "Umsonst": Kreuzberger Treibsand

Grenzenlos, verloren: Stephan Geenes Film „Umsonst“ erzählt vom Lebensgefühl der Drifter um die 20. Ein Treffen gegen die Uhr.

Na, das fängt ja schon mal gut an, eigentlich wie im Film. Ein Freitagvormittag in Kreuzberg, es ist Punkt zehn. Die Dachgeschosswohnung von Stephan Geene ist in gleißendes Licht getaucht, von der Terrasse aus erkennt man das rote Backsteingebäude der ehemaligen Desinfektionsanstalt auf der gegenüberliegenden Seite nur mit zusammengekniffenen Augen. Unten befindet sich die Ohlauer Straße wegen des Flüchtlingsdramas an der Gerhart-Hauptmann-Schule im abklingenden Chaos, während Geene in der Küche steht und Kaffee kocht.
Eigentlich müsste es jeden Moment klingeln und Ceci Chuh und Elliott McKee müssten kommen, die Hauptdarsteller aus Geenes Film „Umsonst“. Doch es passiert: nichts! „Das ist keine große Überraschung“, sagt der Regisseur, „so sind sie, die zwei“. Weil die Zeit ein wenig drängt, weil er ab zwölf eine Vorlesung zur Theorie und Geschichte des Fernsehens an der Beuth-Hochschule in Wedding halten wird, bittet er schon mal zum Gespräch an den großen Tisch im Wohnzimmer – ohne die beiden. Spontan zu sein und zu improvisieren, das ist der Filmemacher gewohnt. So ist auch sein neuer Film entstanden, der am Donnerstagabend im Freiluftkino Kreuzberg Premiere feierte.
„Umsonst“ ist nach „After Effect“ Stephan Geenes zweiter Film. Er lief im Februar auf der Berlinale und erzählt die Geschichte von Aziza, dargestellt von Ceci Chuh. Das Mädchen ist Anfang 20, hat ein Praktikum in Portugal geschmissen und steht eines Tages unerwartet in der Wohnung ihrer Mutter. Die hat das frei gewordene Zimmer der Tochter in der Zwischenzeit an den neuseeländischen Straßenmusiker Zach vermietet und sich auch sonst ganz gut eingerichtet in ihrer neu gewonnenen Freiheit mit Anfang 40. Aziza hingegen ist zurück in ihrem alten Leben und weiß nicht recht, wohin mit sich. Die gewohnte Nachbarschaft erscheint ihr plötzlich fremd, die eigene Mutter auch. Und Zach, der nur Englisch spricht und den halben Tag im Bett verbringt, sowieso.

Also läuft sie ziellos durch die Gegend, vorbei an sauberen Erdgeschossbüros und Hipstern mit Club Mate in der Hand, die laute Oranienstraße entlang und dann zum Schlesischen Tor. Sie trifft eine Freundin, wirft ihr Handy in den Müll, rammt mit dem Fahrrad ein Auto, wird festgenommen und landet auf der Polizeiwache; später brennen noch Luxuskarren. Die Protagonistin erlebt all das in einem Gemütszustand zwischen Ungläubigkeit, Verwunderung und Faszination.
Das Leben ist eines der härtesten, vor allem in Kreuzberg, an der Grenze zu Neukölln: Das gilt für Aziza wie für ihre Mutter und den Straßenmusiker Zach. Ebenso gelassen wie angespannt bewegen sie sich durch den Film, und wer ihnen dabei zuschaut, stellt sich unweigerlich die Frage: Passiert gleich was – und wenn ja, was? Man weiß es nicht, und es lässt sich auch schwer vorhersagen. Wo man den großen Knall erwartet, da bleibt er aus. Wo der oberflächliche Blick vermeintliche Harmonie registriert, da eskaliert die Lage, und so beschimpft eine angetrunkene ältere Frau eine Gruppe junger Jutebeutelträger im Vorbeigehen: „Ihr könnt doch nicht alle nach Berlin kommen, die Mieten erhöhen und dann nicht mal ein paar Bier verteilen!“
Ja, das geht nun wirklich nicht. Doch Regisseur Stephan Geene, der 1961 im Sauerland geboren ist, seit 25 Jahren in Berlin lebt und in den Neunzigern Gründungsmitglied von „bbooks“ war, dem Buchladen und Netzwerk linker Theoretiker, Philosophen und Alltagsdeuter, will mit „Umsonst“ keine Anklage erheben oder Schuld zuweisen. Es geht ihm vielmehr um eine Zustandsbeschreibung.
Was macht das Leben zwischen Kreuzberg und Neukölln eigentlich aus? Was passiert, wenn Alteingesessene und Zugezogene aufeinandertreffen? Wenn die Jungen und die nicht mehr ganz so Jungen die gleiche Musik hören, die gleichen Klamotten tragen, sich an den gleichen Orten treffen? „Es ging mir darum, mich damit auseinanderzusetzen, was genau hier stattfindet.“ Er und sein Team waren gewissermaßen teilnehmende Beobachter.

"Umsonst"-Darstellerin Ceci Chuh ist selbst in Kreuzberg aufgewachsen

Regisseur Stephan Geene und Musiker Elliott McKee, der in "Umsonst" mitspielt.
Regisseur Stephan Geene und Musiker Elliott McKee, der in "Umsonst" mitspielt.

© Mike Wolff

Mehr als die grobe Story zu „Umsonst“ gab es nicht. Kein Text, keine Regievorgaben und am Anfang nicht mal eine Finanzierung. „Ich dachte, bei dem Thema sei es leicht, Geld zu bekommen. Das war aber eine Fehleinschätzung“, erzählt er. Letztlich steuerte die Bundesfilmförderung BKM einen fünfstelligen Betrag zum Projekt bei, so dass die Dreharbeiten im Sommer 2012 beginnen konnten. Einfach ganz viel filmen: Das war die Herangehensweise von Stephan Geene und seinen Kameramännern Volker Sattel und Thilo Schmidt. „Wir wollten einen Rahmen schaffen, der totale Nähe herstellt, um so das Dokumentarische zu ermöglichen.“
Was ist echt und was gespielt? Im Film ist das schwer auszumachen. Es liegt auch an den Darstellern. An Ceci Chuh, 22, die selbst in Kreuzberg aufgewachsen ist und ihr Schauspieldebüt 2007 in Pia Marais’ Drama „Die Unerzogenen“ gab. Sie scheint sich in „Umsonst“ selbst zu spielen. So wie Elliott McKee alias Zach. Der 27-jährige Neuseeländer lebt seit drei Jahren in Berlin und ist – wie seine Filmfigur – Straßenmusiker. Mit seiner Freundin Chloe gründete er eine Band Charity Children und spielte auf dem Markt am Maybachufer. Dort wurde er eines Tages von Stephan Geene entdeckt und angesprochen.
Der Neuankömmling nahm das zunächst nicht sonderlich ernst, schließlich trifft man als Straßenmusiker jeden Tag Leute, die einem viel erzählen. Willst du mal in Finnland auftreten? Dürfen wir ein Video mit dir drehen? „Von 99,9 Prozent hört man nie wieder was. Deshalb habe ich Stephan meine Visitenkarte gegeben, ohne große Erwartungen zu haben“, erzählt McKee, als er irgendwann doch noch zum Interview erscheint.

Sein Deutsch ist immer noch so schlecht wie das von Zach im Film. Dafür hat seine Karriere angezogen: Gerade arbeitet er mit seiner Freundin und einem Musikproduzenten an einem Album, vor ein paar Wochen sind sie im Lido und beim Musikfestival „Fusion“ aufgetreten, Konzerte in Österreich stehen an. Hier sei ein guter Ort zum Leben, findet McKee. „Man kann viel Geld ausgeben, wenn man es hat. Man kann aber auch gut ohne auskommen. Das machen wir seit drei Jahren.“ Das sei viel romantischer, sagt er und grinst.
Nur manchmal zeigt sich Kreuzberg von seiner unromantischen Seite. Wenn er durch die Straßen läuft und doofe Kommentare kassiert, weil er Englisch spricht. „Dabei ist das doch das Tolle an Berlin: dass hier jeder von irgendwo anders herkommt. Diese Vielfalt feiert Stephan mit seinem Film.“ Geene selbst hat für diese Vielfalt gerade keine Zeit mehr, er muss jetzt gehen, seine Vorlesung fängt an. Wo Ceci Chuh abgeblieben ist? Geene guckt ratlos. Telefonisch sei sie nicht zu erreichen gewesen. Wie im Film.
„Umsonst“ läuft in den Kinos Hackesche Höfe, Eiszeit, Babylon Kreuzberg, Zukunft, Sputnik Südstern

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