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Die Kollegen von Sandra (Marion Cotillard) bekommen 1000 Euro, wenn sie geht.

©  Alamode Film

Film "Zwei Tage, eine Nacht": Ein Rest von Menschlichkeit

Dialoge statt Duelle: Der Arbeitslosen-Thriller „Zwei Tage, eine Nacht“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne.

Irgendwann hält man es kaum noch aus. Wieder steht Sandra vor einer Haustür, einem schlichten Eigenheim aus rotem Backstein oder einem gesichtslosen Mietshaus, wieder drückt sie auf die Klingel, wieder sagt sie ihren Satz auf. Dass die Abstimmung am Montag wiederholt wird, weil der Vorarbeiter einige Kollegen unter Druck gesetzt hat, und dass sie darum bittet, diesmal für sie zu stimmen, weil sie den Job dringend braucht. Manche öffnen ihr erst gar nicht die Tür, manche schütteln bedauernd den Kopf, die meisten fragen: Und wie haben die anderen sich entschieden?

1000 Euro. So hoch ist der Bonus in der Solarzellenfabrik Solwal für Sandras Kollegen, so viel bekommen sie ausgezahlt, wenn Sandra geht. Sandra oder das Geld: eine perfide, erschreckend realistische Versuchsanordnung. Mr. Dumont, der Solwal-Chef, hat selber keine Wahl, das Solarzellen-Geschäft ist beinhart, wegen der Chinesen, er muss rationalisieren. Die Abstimmung am Freitag fiel eindeutig aus: Die Mehrheit will den Bonus. Aber Sandras Freundin Juliette lässt nicht locker, also erlaubt Mr. Dumont ein neues Votum am Montagmorgen. Ein Wochenende lang hat Sandra Zeit, ihre Kollegen zu überreden, auf die Prämie zu verzichten, zwei Tage und eine Nacht lang.

Kaum zu glauben, dass das Schicksal einer jungen Frau, der die Arbeitslosigkeit droht, so irre spannend sein kann. Es sind 16 Kollegen, Sandra braucht neun Stimmen, man fiebert mit, führt förmlich Strichlisten beim Zuschauen, es bleibt unentschieden bis zur letzten Sekunde. Klassische Western-Duelle sind nichts dagegen.

„Zwei Tage, eine Nacht“: Die belgischen Regie-Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne haben einen Thriller über die Ökonomisierung der Arbeitswelt gedreht, ein etwas anderes Actiondrama, mit Dialogen statt Duellen und Schritttempofahrten durch die Kleinstadt Seraing in der Provinz Lüttich anstelle von Verfolgungsjagden, von Viertel zu Viertel. Der Unterschied zum klassischen Actionfilm: Es gibt keine Bösen und auch keine Täter. Nur tapfere Menschen, die über die Runden zu kommen versuchen, die ihre Familie ernähren und die Kinder versorgen möchten.

Am Ende kennt man sie alle. Willy, dessen Frau selber arbeitslos ist, weshalb er im Hinterhof alte Kacheln verkauft. Mireille, die mit ihrem neuen Freund von vorne anfängt und jeden Cent zusammenkratzen muss. Timur, der am Samstag als Fußballcoach Jugendliche trainiert und vor Scham zu weinen beginnt. Anne, die mit ihrem lieblosen Ehemann eine Terrasse ans kleine Häuschen baut, Alphonse mit befristetem Vertrag, Migranten, einfache Leute. Und Familienväter, die am Wochenende schwarzarbeiten müssen, weil der Lohn aus der Fabrik einfach nicht reicht.

Verheiratet, zwei Kinder, labil: Vor allem lernt man Sandra kennen. Sie war krank, hat unter Depressionen gelitten, im Betrieb ging es mit Überstunden auch ohne sie – aus diesem Grund die Abstimmung. Manu, ihr fürsorglicher Mann (Fabrizio Rongione), arbeitet als Koch in einer Pizzeria, sie müssen das gemeinsame Haus abbezahlen, auch sein Gehalt reicht nicht aus. Manu fährt Sandra unermüdlich von Adresse zu Adresse.

Sandra, das ist Marion Cotillard. Eine Oscar-prämierte Glamourfrau als Arbeiterin? Schon in ihrem letzten Film, „Der Junge mit dem Fahrrad“, nutzten die Dardennes mit Cécile de France als zupackend engagierter Kleinstadt-Friseuse das Image eines Stars, um das Tristesse-Stigma des Sozialrealismus Lügen zu strafen. Cotillard trägt Jeans und ein rosafarbenes Top. Zartes Gesicht, nackte Schultern, eine zerbrechliche, schutzlose Gestalt, trotz der robusten Stiefel. Ständig wirft sie Psychopillen ein, anders schafft sie die Betteltour nicht. Die Kamera folgt ihr auf Schritt und Tritt, steht ihr zur Seite, lässt sie nicht aus den Augen. Eine Verbündete. Nur dass Cotillard eine Spur zu adrett bleibt, zu eindimensional für die Rolle.

Der Film hat es trotzdem in sich. Ohne Soundtrack und Schauwerte-Schnickschnack, dafür mit aufmerksamer Kadrage und Rockmusik im Autoradio spüren die Dardennes den Resten der Menschlichkeit in postkapitalistischen Zeiten nach. Erneut werben sie für so altmodische Dinge wie Solidarität und Mitgefühl, unter Verzicht auf Arbeiterkampfparolen, Gewerkschaftsideologie oder Armutsfolklore. Weil sie Realisten sind und Träumer zugleich, wie schon in „Rosetta“ über eine jugendliche Arbeitslose mit alkoholkranker Mutter, wie schon in „Der Sohn“ über den Kraftakt des Verzeihens in mörderischen Zeiten. Sandra und den anderen drohen prekäre Verhältnisse, nicht alle werden es schaffen. Not schweißt nicht zusammen, sie hat entsolidarisierende Wirkung, aus diesem Dilemma macht der Film keinen Hehl. Würde unsereins für Kollegen auf Geld verzichten, wenn gleichzeitig Entlassungen drohen?

Die Lage ist paradox. Ich stimme für die Prämie, aber ich drücke dir trotzdem die Daumen, sagt einer. Genau darin liegt der Unterschied. In der Empathie, aus der jener Lebensmut erwächst, den Sandra so dringend braucht. Ob mit oder ohne Job.

Ab Donnerstag in elf Berliner Kinos

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