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© Progress Film Verleih

Filme zum Mauerfall: Nach der Eiszeit kommt der Frost

Gab es Indizien für den Mauerfall? Im Kino? Die Reihe „Winter adé“ sucht zwanzig Jahre später danach.

Manchmal überholt die Wirklichkeit jeden Gedanken. Niemand in Ost und West – nicht die Intellektuellen, nicht die Wissenschaftler, keine Partei, niemand – hat den 9. November 1989, die Maueröffnung vorausgesehen. Grund genug, sich zwanzig Jahre später zu fragen: Gab es Indizien, vielleicht auch im Kino?

Die Berlinale-Reihe „Winter adé“, die dann bundesweit auf Tournee geht, versammelt filmische Vorboten der Wende aus der DDR und Osteuropa, ausgewählt von Claus Löser. Die achtziger Jahre kehren zurück vor unsere Augen, sogar als Trick- und Experimentalfilm.

Indizien? – Die Klischeedenker mögen da ungewöhnliche Offenheit und Regimekritik erwarten. Aber die gab es auch zuvor, die gab es selbst in den Zeiten dümmster Zensur. Nein, die Indizien sind andere. Und die Überraschungen auch, selbst bei Filmen, die man kennt.

„Winter adé“ heißt das titelgebende großartige Frauenporträt von Helke Misselwitz, das im Herbst 1988 bei der Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche die Silberne Taube gewann. Entstanden im Vorwendejahr auf einer Bahnreise mit Thomas Plenerts Kamera durch die DDR, von Süd nach Nord, von West nach Ost. So privat und dabei so öffentlich, so rücksichtslos – auch gegen sich selbst – hatten bis dahin nie Menschen in der DDR im Kino über sich Auskunft gegeben: von der Leiterin der damals ältesten Tanzschule Deutschlands über die Arbeiterin einer Brikettfabrik, die ihr behindertes Kind großzieht, zweier Mädchen, die von zu Hause weggelaufen sind bis hin zu einem uralten Paar irgendwo in der Uckermark, das seine diamantene Hochzeit feiert. Wer „Winter adé“ sieht, versteht sofort, dass Frauen in der DDR für die akademischen Abstraktheiten des Feminismus unerreichbar waren.

Und doch ist der Haupteindruck, zwanzig Jahre später, noch ein anderer: Welch tiefe menschliche Reife dieser Frauen mit ihren oft so schweren Schicksalen im ausgehenden Industriezeitalter. Und gut ein Jahr später wird man auch sie gleich allen früheren DDR-Bürgern wie Kinder behandeln: die den Westen lernen müssen, die Demokratie lernen müssen … Zwei Dokumentarfilme von Hannes Schönemann („Sonnabend, Sonntag, Montagfrüh“) und Thomas Heise („Wozu denn über diese Leute einen Film?“) weiten die DDR-Vorwende-Porträts.

„Jadup und Boel“ von Rainer Simon, die Geschichte eines Kleinstadtfunktionärs, der durch ein einstürzendes altes Haus ausgerechnet am Tag der Einweihung der neuen Kaufhalle mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird, ist der letzte in der DDR verbotene Film. Tief allegorisch, elegisch, in der Filmsprache älteren Typs. In der Sowjetunion, in Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern dagegen ereignen sich lauter kleine ästhetische Revolutionen, sogar im Publikum. Der Autorenfilm – also das keine Zumutung meidende, gegen die Zuschauergeduld sehr gleichgültige Kino des radikal subjektiven Typs und seiner Wahrhaftigkeit – setzt sich durch und: alle wollen ihn sehen!

In der Sowjetunion brach unter Gorbatschow die Untergrundkultur beinahe explosionsartig hervor. Unvorstellbar heute, dass „Igla“ („Die Nadel“) zu einem der erfolgreichsten sowjetischen Filme aller Zeiten wurde. Über 20 Millionen Menschen sahen innerhalb weniger Wochen diesen improvisierten, tief verrätselten, collagenhaft abrupt geschnittenen Taumel durch eine surreale Bilderwelt: Junger Mann will drogenabhängige Freundin aus den Händen eines dämonischen Arztes befreien. Schiffe in der Wüste sind in „Igla“ eher ein Zeichen von Normalität. Zwei Rockstars der späten Sowjetunion spielen die Hauptrollen in Raschid Nugmanows Film.

Vielleicht besaßen die Polen die längste Übung darin, sich von keiner Partei und keinem Sozialismus dabei stören zu lassen, die Filme zu machen, die sie machen wollten. Schon Anfang der Achtziger fand Piotr Szulkin die Diktaturen von übermorgen – etwa die der Medien - viel interessanter als die gegenwärtige. Schließlich ist die gegenwärtige in jeder künftigen enthalten. Nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen wurde „Krieg der Welten – Das nächste Jahrhundert“ umgehend verboten. Auch wenn es um die Berichterstattung über die Invasion der Marsmenschen 1999 in irgendeinem westlichen Land geht – die regierenden Kommunisten wussten genau, wer hier (mit)gemeint ist.

Natürlich gibt es auch Vorwende- Filme West, so etwa Michael Kliers „Überall ist es besser wo wir nicht sind“ von 1989. „Überall ist es besser …“ - Selbst dieses tiefste Volkswissen fast aller slawischen Völker stimmt nicht mehr. Woher hätte Jerzy (Miroslaw Baka, auch in Kieslowskis „Kurzem Film über das Töten“ zu sehen) wissen sollen, dass West-Berlin und New York nur Warschau mit anderen Mitteln sind? Der Zeitenbruch 1990 bedeutet auch: Die Erotik des Auswanderns, des Fliehens geht zuende. Ab jetzt gibt es nur noch Flüchtlinge. Unbehauste.

Täglich im Cinemaxx 8, dem Zeughauskino und der Deutschen Kinemathek

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