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Filmfest: Mütter und Monster

Ein zärtlicher Boxer, eine undankbare Tochter und ein teures Wagnis:Das Babylon Mitte zeigt in seinem Festival „Unknown Pleasures“ amerikanische Independentfilme.

Von wegen „unknown“. Große Namen wie Martin Scorsese und Kate Winslet stehen auf dem Programm. Und die Witwe der Regielegende Nicholas Ray wird am kommenden Wochenende (7.-8. Januar) persönlich nach Berlin kommen. Das sind die Hauptattraktionen des Independentfestivals „Unknown Pleasures“, das zum vierten Mal im Babylon Mitte stattfindet. Die meisten der 21 Filme aber stammen tatsächlich von unbekannten Regisseuren, die mit ebenso unbekannten Schauspielern arbeiten. Sie werden es schwer haben, einen Verleih zu finden – zumal manche von ihnen thematisch und stilistisch zu wenig riskieren. Oft begnügen sie sich damit, die untere Mittelschicht zu porträtieren.

Von einem übergewichtigen Waisenjungen, der in der Schule gehänselt wird, erzählt etwa Azazel Jacobs’ „Terri“, und der Film erscheint bei aller Sympathie, die man der Figur entgegenbringt, dann doch eher wie eine blasse Kopie von „Precious“. Dafür eilt „Martha Marcy May Marlene“ ein exzellenter Ruf voraus: Sean Durkins erster Langfilm über eine junge Frau, die einer Sekte entkommt und zu ihrer Familie zurückkehrt, hat bereits zahlreiche Kritikerpreise gewonnen. Die Hauptdarstellerin Elizabeth Olsen ist die jüngere Schwester der blonden Olsen-Zwillinge Mary-Kate und Ashley, die mit trashigen Realityshows Millionen verdient haben. Elizabeth zieht es zur ernsthaften Schauspielerei.

Dem abgenutzten Genre des Boxerfilms gewinnt Frederick Wiseman neue Aspekte ab. Seine Dokumentation „Boxing Gym“, die das Festival am 1. Januar eröffnet, interessiert sich für Leute, denen man diesen Sport niemals zutrauen würde: Dicke, Schmächtige, kleine Mädchen. Unvergesslich die Szene, in der ein stämmiger Boxer sein Neugeborenes zum Training mitnimmt: Er prügelt auf den Boxsack ein, und zwischendurch streichelt er das Baby.

Ein teures Wagnis ist Todd Haynes mit „Mildred Pierce“ eingegangen, einer fünfteiligen HBO-Miniserie, von der hier die ersten beiden Teile gezeigt werden. James M. Cains gleichnamiger Roman (1941) und die Erstverfilmung mit Joan Crawford (1945) sind Klassiker des Mutter-Tochter-Melodrams, mit einer ungewöhnlichen Variante: Die Tochter ist ein Monster, undankbar und geldgierig. Das schmal geratene Happy End besteht darin, dass die Mutter sich von der Tochter löst. „Zur Hölle mit ihr!“ prostet sie ihrem ExMann zu, mit dem sie nach der gescheiterten Kurzehe mit einem Playboytypen (Guy Pierce), der es denn doch auf ihre Tochter abgesehen hat, einen zweiten Versuch startet.

Cains Roman ist 238 Seiten kurz, der Film 336 Minuten lang. Haynes widmet also jeder Seite mehr als eine Minute. Ganze Dialogpassagen hat er wörtlich übernommen. Um Mildreds Aufstieg von der Hausfrau zur Besitzerin einer Restaurantkette zu illustrieren, fängt er jedes Detail ihrer Kochkunst ein. Alles sieht authentisch 1930er-Jahre-mäßig aus, vom Gasofen bis zum Backblech. Doch die Bildkompositionen wirken künstlich und kalt. Wiederholt blickt die Kamera durchs Fenster, wie in eine Vitrine. So ist diese „Mildred Pierce“ trotz der starken Besetzung (Kate Winslet, Evan Rachel Wood, Melissa Leo) mehr zur akademischen Übung als zum packenden Melodram geraten.

Gleich drei Dokumentationen stellt Martin Scorsese vor. „George Harrison: Living in the Material World“ (siehe Tagesspiegel vom 8. Dezember) ist ein angenehm lockeres, keineswegs ehrfürchtiges und gerade deshalb herzerwärmendes Porträt des Ex-Beatles. Mit „A Letter to Elia“ verbeugt sich Scorsese vor Elia Kazan, den er als wichtigste Inspiration für seine eigenen Filme betrachtet. „Public Speaking“ ist eine One-Woman-Show mit der hierzulande unbekannten Fran Lebowitz. Sie hat sich als Journalistin einen Namen gemacht, aber ihre Erfolge feiert sie als Rednerin in schwarzen Maßanzügen. Was sie im Leben erfüllt? „Wenn Menschen mich nach meiner Meinung fragen.“ Dabei kennt sie keine falsche Höflichkeit. Sogar ihre Freundin Toni Morrison sagt ihr einmal ins Gesicht: „Du hast fast immer recht, aber du bist niemals fair.“

An den 1979 verstorbenen Nicholas Ray erinnern gleich zwei Filme: Sein letzter, selbst finanzierter und gemeinsam mit Studenten realisierter Politessay „We Can’t Go Home Again“ ist kürzlich restauriert worden. Als Ergänzung dazu gibt es eine von seiner Witwe Susan zusammengestellte Dokumentation, „Don’t Expect Too Much“. Erwarte nicht zu viel – mit dieser Einstellung sollte man gerade jene Beiträge studieren, die mit wenig Schlüsselreizen aufwarten. Denn es ist die endgültige Form, die einen Film bemerkenswert macht, nicht das Thema oder die prominenten Beteiligten.

Bis 15. Januar im Babylon Mitte. Details unter: www.unknownpleasures.de.

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