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Filmfest Toronto: Die Oscars fest im Visier

Hollywood in der Krise? Von wegen: Auf dem Filmfestival Toronto präsentierte sich vor allem das US-amerikanische Kino in großer Form.

Krise? Welche Krise? Man hätte in diesem Jahr durchaus auf den Gedanken kommen können, Hollywood stecke auch jenseits seiner Sommer-Blockbuster in der Bredouille. So vergleichsweise gering war die Präsenz auf den großen Filmfestivals von Berlin, Cannes oder Venedig, und so eindeutig dominierte die europäische Konkurrenz die dortigen Preisverleihungen. Doch man musste nur nach Toronto reisen, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Denn aus der neuen Perspektive zeigt sich: Der Zustand des englischsprachigen Kinos scheint im Gegenteil bemerkenswert gut.

In der kanadischen Metropole, wo in den vergangenen 10 Tagen zum 38. Mal das Toronto International Film Festival stattfand, werden keine Goldenen Bären, Palmen oder ähnliches verliehen; von einem Publikums- und einigen Kritikerpreisen abgesehen, kommt man ohne Auszeichnungen aus. Doch es gibt für die Filme dort etwas zu gewinnen, was am Ende womöglich viel mehr wert ist, von Branchen-Insidern „Oscar buzz“ (wörtlich etwa: Oscar-Aufregung) genannt. Denn obwohl es noch ein halbes Jahr hin ist bis zur Verleihung der nächsten Academy Awards, gab auch dieses Jahr Toronto wieder den Startschuss fürs Rennen um den wichtigsten Filmpreis der Welt.

Als erster großer Favorit positionierte sich dabei Steve McQueens Sklaverei-Drama „12 Years a Slave“, das Ende Oktober auch in die deutschen Kinos kommt. Derart ungeteilte Begeisterung, wie sie dem dritten Spielfilm des britischen Installationskünstlers entgegen gebracht wurde, entfachte in Toronto in diesem Jahr kein anderer Film. Und das zu Recht, denn McQueens präziser, kluger Blick auf eines der dunkelsten Kapitel der US-Geschichte erschüttert sein Publikum mit einer Nachhaltigkeit und Intensität, wie man sie im Kino nicht alle Tage erlebt. Für seine berührende, auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte hat der Regisseur ein famoses Ensemble vor seiner Kamera versammelt, zu dem neben Michael Fassbender und Benedict Cumberbatch auch Produzent Brad Pitt gehört. Doch „12 Years a Slave“ gehört ganz und gar dem bemerkenswerten Briten Chiwetel Ejiofor in der Hauptrolle eines gekidnappten und in die Sklaverei verkauften Nordstaatlers.

Daniel Brühl spielt Niki Lauda - in "Rush - Alles für den Sieg"

Nur einen Abend später allerdings zeigte sich schon, wer Ejiofor beim Oscar Konkurrenz machen könnte. Da nämlich feierte „Dallas Buyers Club“ Weltpremiere, ein weiterer der vielen Filme in Toronto mit realen Geschichten als Vorlage. Matthew McConaughey hat sich für die Rolle eines aidskranken Cowboys, der in den achtziger Jahren nicht ganz freiwillig zum HIV-Aktivisten wurde, erschreckend viele Kilos heruntergehungert und liefert auch sonst eine eindrückliche Leistung ab. Ex-Teenie-Star und Rockmusiker Jared Leto als transsexuelle Leidensgenossin stiehlt ihm allerdings beinahe die Show. An beiden wird man bei den Oscar-Nominierungen kaum vorbeikommen, selbst wenn man „Dallas Buyers Club“ aus queer-politischer Sicht durchaus einseitig und problematisch finden kann.

Auch etliche Frauen brachten sich in Toronto in Position für kommende Ehrungen. Neben Judi Dench und Sandra Bullock, die ihre Filme „Philomena“ und „Gravity“ kurz zuvor schon in Venedig präsentiert hatten, waren es vor allem Meryl Streep und Julia Roberts, die als Mutter und Tochter im mit Spannung erwarteten „August: Osage County“ für lange Schlangen vor den Kinos sorgten. Dass Streep dann auf der Leinwand mit furienhafter, allerdings auch herrlich komischer Überzeichnung das auf einem Theaterstück basierende Familiendrama an sich zu reißen drohte, schien das Publikum dabei kaum zu stören.

Andere Filme kamen in der öffentlichen Wahrnehmung, zu der in Toronto neben Kritikern und Filmemachern auch zahlendes Festival-Publikum beiträgt, weniger glimpflich weg. Der Eröffnungsfilm „Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt“ zumindest dürfte sich, trotz einer akkuraten Mimikry-Leistung von Benedict Cumberbatch als Julian Assange, kaum irgendwelche Oscar-Chancen ausrechnen. Daniel Brühl, der darin als Daniel Domscheit-Berg zu sehen ist und sich gut gelaunt in den stargespickten Festival-Rummel stürzte, sollte das kaum verzagen. Denn ausgerechnet die wenig Formel-1-versierten Nordamerikaner zeigten sich so begeistert von seinem Auftritt als Niki Lauda in Ron Howards ebenfalls als Weltpremiere gezeigtem „Rush – Alles für den Sieg“, dass nicht wenige ihm dafür eine Oscar-Nominierung, mindestens aber den großen internationalen Durchbruch zutrauen.

Doch es geht in Toronto nicht nur um potentielle Preise und Aufmerksamkeit für den bevorstehenden Kinostart – einige Filme müssen überhaupt erst einmal einen Verleih finden. Auch hier präsentierte sich vor allem das US-Kino in erfreulicher Form. Für die Rechte an „Can A Song Save Your Life?“, einem im besten Sinne massenkompatiblen und überaus reizenden Film über Liebe und Musik von „Once“-Regisseur John Carney, wurden nach einem Bieterwettstreit 7,5 Millionen Dollar hingelegt. Das ist fast doppelt so viel, wie im vergangenen Jahr für den begehrtesten Film bezahlt wurde – und eine Summe, auf die mit Jason Batemans amüsantem Regiedebüt „Bad Words“ dieses Mal gleich noch ein zweiter Film kam.

Zählt man dazu das mit starken Darstellerleistungen, aus zwei Perspektiven erzählte Beziehungsdrama „The Disappearence Eleanor Rigby“, die als Abschlussfilm gezeigte Elmore-Leonard-Verfilmung „Life of Crime“ oder auch nur die konventionelle, aber wunderbar leicht daherkommende romantische Komödie „The F Word“, kommt man zu dem Schluss: Von einer Krise des amerikanischen Kinos kann keine Rede sein.

Dass Torontos Festival-Konkurrenz am Potsdamer Platz oder an der Croisette von dieser künstlerischen Hochphase wird profitieren können, ist allerdings nicht zu erwarten. Denn je stärker sich Hollywood und seine Peripherien in Kanada präsentieren, desto unnötiger erscheint ein Abstecher nach Europa abseits der Oscar-Saison.

Patrick Heidmann

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