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Filmfest Istanbul

© Filmfest Istanbul

Filmfest: Türkischer Mokka

Anatolische Epen und urbane Kammerspiele auf dem Filmfest Istanbul. Mit 190.000 Besuchern und 200 Filmen in 16 Tagen ist es vor allem ein Publikumsfestival, besucht von Studenten und älteren Mittelschichtangehörigen.

Seit 1841 das erste Hotel in Beyoglu eröffnet wurde, hat das zwischen Goldenem Horn und Taksimplatz gelegene touristische Zentrum Istanbuls mehrere Brände und Erdbeben überstanden, aber die Substanz der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Gebäude blieb unangetastet. Jetzt sind die fünfstöckigen Prachtbauten um die berühmte Istiklal Caddesi renoviert, die Läden im Erdgeschoss mussten Flagship Stores amerikanischer Ketten weichen, und in den Wohnetagen haben sich Werbefirmen, Filmproduktionen, kleine Galerien und Bars eingemietet. In Beyoglu konzentriert sich die kreative Elite der Türkei, aber auch Istanbul-Enthusiasten aus der ganzen Welt haben sich dort angesiedelt. Dass in dem Stadtteil schon immer ein weltoffener, produktiver Geist herrschte, zeigt der sorgfältig recherchierte Dokumentarfilm „Beyoglu Inside Out“, eine Kompilation aus alten Stichen, Fotos und Filmen, der auf dem 27. Istanbul Film Festival in einer Nebenreihe läuft.

Solche beiläufigen Entdeckungen erlaubt dieses Festival, dessen internationaler Wettbewerb Kunst und Künstler im weitesten Sinne thematisiert. Mit 190.000 Besuchern und 200 Filmen in 16 Tagen ist es vor allem ein Publikumsfestival, besucht von Studenten und älteren Mittelschichtangehörigen, die die Gelegenheit nutzen, internationale Filme zu sehen und in Master Classes – diesmal mit Michael Ballhaus, Milos Forman und Alexander Sokurov – und bis spät nachts in den Bars an der Istiklal Caddesi wortgewaltig zu diskutieren. 80 ausländische Journalisten sind akkreditiert; sie kommen hauptsächlich wegen des nationalen Wettbewerbs, in dem das beste Dutzend der jährlich etwa 40 produzierten Filme präsentiert wird.

Zwei Filme erregten die besondere Aufmerksamkeit des kurdischstämmigen Publikums, schon wegen ihrer aus dem Kurdengebiet stammenden Regisseure: Kazim Öz’ „Firtina/The Storm“ basiert offensichtlich auf eigenen Erfahrungen. Der junge Cemal kommt in den frühen neunziger Jahren an die ehrwürdige Istanbul-Universität und wird langsam politisiert. Er wird sich der alltäglichen Benachteiligung der Kurden bewusst, die er in seinem Dorf noch gar nicht wahrgenommen hatte, und wandelt sich zum politischen Aktivisten. Der Film porträtiert gleichzeitig eine Gruppe von Studenten, die durch die massiven Repressionen der Polizei in alle Winde zerstreut wird. „Firtina/The Storm“ ist kein politisches Plädoyer, eher eine persönliche Geschichte, die jedoch deutlich macht, wie sehr sich die Situation der kurdischstämmigen Türken in den letzten zehn Jahren verbessert hat.

„Gitmek /My Marlon and Brando“ von Hüseyin Karabey wählt dagegen eine eher allgemeine Perspektive: Bei einem Dreh im Irak verliebt sich eine Istanbuler Off-Theaterschauspielerin in einen irakischen Kurden, den sie ausgerechnet dann zu besuchen beschließt, als der Irak-Krieg ausbricht. Über den Osten der Türkei und den Iran gelangt sie auf klandestinen Wegen zum Treffpunkt und wartet auf ihren Geliebten, der nicht auftauchen wird. Die plakativ pazifistische Botschaft des Films und die komödiantischen Alltagsbeobachtungen aus drei Ländern begeisterten zwar das Publikum, aber weniger die Kritik. Die Jury zog sich mit dem Preis für die Hauptdarstellerin aus der Affäre.

Als unangefochtener Publikumsliebling erwies sich „Ulak/The Messenger“ von Cagan Irmak, ein aufwendiges historisches Epos um einen Geschichtenerzähler, der auch ein Weltverbesserer ist und daher nur Kindern seine Geschichten erzählt. Sie sind es am Ende, die ihren Eltern einen Spiegel vorhalten und sie das begangene Unrecht bereuen lassen. In Cinemascope gedreht, zeigt „Ulak“ weite anatolische Landschaften in Nacht und Nebel, galoppierende Pferde, heimliche Zusammenkünfte und den Fall eines fürchterlichen Tyrannen, dem die historisierende Fantasiekluft besonders gut zu Gesicht steht. „Ulak“ ist professionelles Unterhaltungskino und erinnert ein wenig an die US-Sandalenfilme der Fünfziger: Schauwerte und große Gefühle.

Ganz im Gegensatz dazu steht der Favorit der türkischen Filmkritik, das Generationenporträt „Ara“ des 1965 geborenen Ümit Ünal. Einziger Schauplatz ist eine große Altbauwohnung in Beyoglu, die von ihrer Besitzerin an Filmproduktionen vermietet und zum Teil privat benutzt wird. Zwei Paare treffen sich dort über einen Zeitraum von zehn Jahren immer wieder, zusammen oder in unterschiedlichen Zweierkonstellationen; ihre Diskussionen und Auseinandersetzungen, Verrat, Betrug und Verzweiflung, Affären und Krisen sind symptomatisch für die Vierzigjährigen in aller Welt, die mit den Enttäuschungen des Lebens fertig werden müssen.

Die pointierten Dialoge und die präzise Schauspielerführung zeigen das große Können Ümit Ünals, der mit extrem niedrigen Budgets dreht und auf seine internationale Entdeckung noch wartet. Die Jury bedachte ihn mit einer besonderen Erwähnung, während der Hauptpreis an das junge Team des schon auf der Berlinale gezeigten Films „Tatil Kitabi/Summer Book“ über eine traurige Kindheit auf dem Lande ging. Da der Preis mit 25 000 Euro dotiert ist, kann er als Ermutigung für den gerade 30-jährigen Seyfi Teoman gelten – derzeit der einzige ernst zu nehmende türkische Nachwuchsregisseur.

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