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Nachtgedanken. Szene aus Rithy Panhs Filmessay „Exil“.

© Doku.Arts

Filmfestival Doku.Arts: Im Land der schwarzen Sonne

Blindheit als Schicksal und Metapher: Das zehnte Berliner Doku.Arts-Festival feiert den essayistischen Film.

Von Gregor Dotzauer

Der Essayfilm, schrieb die große Kritikerin Frieda Grafe einmal, sei der Autorenfilm des Dokumentarfilms. Sie charakterisierte ein Genre, das sich zuverlässigen Definitionen entzieht, aber wie die Gattung des literarischen Essays eine Vielzahl von Deutungen erfahren hat. Für Alexandre Astruc, der 1948 mit seiner Programmschrift über die Kamera als Füllfederhalter – als caméra-stylo – die Hoffnung verband, der Film könne es endlich mit den Romanen von Faulkner und Malraux oder den Essays von Sartre und Camus aufnehmen, war er ein Mittel gegen die „Tyrannei des Visuellen“. Denn das Grundproblem des Films, so Astruc, sei der Ausdruck des Gedankens. Die umgekehrte Gefahr, nämlich die Dominanz des gesprochenen Worts, wie sie etwa die frühen Filme von Chris Marker in Form von Off-Kommentaren prägt, war aber zumindest Grafe ebenso bewusst.

Es ist von daher nicht ungewöhnlich, dass sich der Dokumentarfilm immer wieder mit der Konkurrenz von Auge und Ohr, mit der Spannung zwischen inneren und äußeren Bildern, auseinandergesetzt hat. Nirgends wird sie, bis zum Paradox gesteigert, deutlicher als in den Filmen über Blindheit, jener Beeinträchtigung der Sinne, die den Film als Film zu bedrohen scheint.

Die „Notes on Blindness“, mit denen am morgigen Donnerstag um 20 Uhr das zehnte Doku.Arts-Festival unter dem Motto „Essaydox“ im Zeughauskino eröffnet, sind indes ein eindrücklicher Beweis für die Sinnhaftigkeit einer solchen Grundlagenforschung. Das englische Filmemacherpaar Peter Middleton und James Spinney geht darin den Blindheitserfahrungen des Birminghamer Theologen John M. Hull nach, wie er sie in seinem Buch „Touching the Rock“ festgehalten hat. Der Film betreibt unmerklich die vollkommene Spaltung von Ton und Bild.

Was Hull viele Jahre für sich (und später für die Regisseure) auf Audiokassetten aufnahm, wird von Schauspielern, die ihn und seine Frau Marilyn verkörpern, lippensynchron nachgesprochen oder ist im Off zu hören. Kein einziges Geräusch stammt vom Set. Authentizität und völlige Künstlichkeit gehen eine unauflösbare Liaison ein, wodurch sich auch der Begriff des Dokumentarischen in Richtung des Fiktionalen verschiebt. „Notes on Blindness“ versucht, unter Verzicht auf establishing shots jene Verlorenheit nachzuinszenieren, die Hull in seiner Welt empfunden haben muss und die ihn doch als spirituelle Kraft erfüllte. So, wie ihm am Ende nur noch Träume eine Idee von bildhaftem Bewusstsein eingaben, verrutscht bei Middleton und Spinney die Cadrage zum bewusst Fragmentierten: eine Illustration des Nicht-Illustrierbaren.

Macht Fülle gleichgültig?

Mit „Black Sun“ steht ein weiterer Film über Blindheit auf dem Programm. Gary Tarn porträtiert darin den französischen Maler Hugues de Montalembert, der im Alter von 35 Jahren, beim Kampf gegen Einbrecher in New York, sein Augenlicht verlor. Was „Imaging Blindness“ heißt, darüber spricht auch die Londoner Filmwissenschaftlerin Sarah Cooper im Rahmen eines eintägigen Symposions zum Stand des Essayfilms. Dabei wird wohl auch zur Sprache kommen, ob Blindheit noch zur Metapher taugt. Schon 1928 prophezeite Siegfried Kracauer, dass das Publikum angesichts der kinematografischen „Fülle gleichgültiger Beobachtungen“ abstumpfen und erblinden werde. Und der niederländische Filmemacher Johan van der Keuken, der mit den beiden Teilen von „Blind Kind“ in den 60er Jahren eine kanonische Dokumentation drehte, fürchtete, dass „im visuellen Zeitalter Blindheit an der Tagesordnung“ sei.

Eine ganz andere Stoßrichtung verfolgt Bo Wangs Videoessay „China Concerto“. Der in Brooklyn lebende Regisseur reiste 2010 in seine Heimatstadt Chongqing, wo der inzwischen wegen Korruption verurteilte Parteifunktionär Bo Xilai inmitten bereits westlich beeinflusster Medienformate einen Kampf für die Einhaltung maoistischer Tugenden führte. Bo Wang beobachtet vor allem die Rolle von Randfiguren und wie sich in die Propagandaspektakel einfügen. Auch der in Paris lebende Kambodschaner Rithy Panh arbeitet in „Exil“ mit Propagandamaterial.

Er vergegenwärtigt darin seine Jugendzeit und die Flucht vor den Roten Khmer, deren Massaker bis heute das Thema seiner aus dem Reenactment gewachsenen Erinnerungskunst bilden, die einem im visuellen Sinn blinden Fleck der Geschichte ein Gesicht zu geben versuchen. Vielgestaltige Porträts gelten dem tschechischen Fotografen Josef Koudelka, dem englischen Gitarristen Wilko Johnson, der Schweizer Reiseschriftstellerin Ella Maillart und dem amerikanischen Regisseur Sidney Lumet.

Doku.Arts, Zeughauskino, 6. – 23. 10., Symposion am 7.10. von 10–18 Uhr (Eintritt frei). Infos: www.doku-arts.de

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