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Filmfestival in Marrakesh: Lautes Luftholen

Westliche Subversion nach Art der Könige: Das zehnte Filmfestival von Marrakesch lenkt die Aufmerksamkeit auf das größte Gesellschaftsexperiment auf islamischem Boden.

Im halben Licht des abendlichen Platzes sieht sie aus wie ein Fahrradschlauch. Nur liegt in Marrakesch, dieser Stadt wie hingeträumt aus Licht und Vergangenheit, nichts herum, kein Abfall, schon gar keine kaputten Fahrradschläuche, weder auf dem Jemaa El Fna, dem „Platz der Vernichtung“, noch anderswo. Zudem: Haben Fahrradschläuche Köpfe? Es ist eine Kobra. Niemand beachtet sie. Sie schaut über den sich leerenden riesigen Platz. Die Händler, Schlangenbeschwörer, Feuerschlucker, Weissager und Gesundbeter gehen nach Hause. Von den Grillständen zieht Rauch bis vor die immer heller werdende Open-Air-Leinwand des 10. Filmfestivals von Marrakesch. Einst wurden hier die Geköpften ausgestellt. Nun gibt es neun Abende lang Stehkino. Man nennt das zivilisatorischen Fortschritt. Andererseits war der Jemaa El Fna nicht zuletzt der Ort der Geschichtenerzähler.

Aber was vermag ein Geschichtenerzähler gegen Keanu Reeves, Susan Sarandon, den Jurypräsidenten John Malkovich oder Harvey Keitel, die im abendlichen Wechsel über den Platz rufen, wie gern sie hier sind und wie oft sie schon da waren? Sie bekommen freundlichen Applaus. Jeden Abend um 18 Uhr ein anderer Film, von „Willkommen bei den Sch’tis“ über „Amadeus“ bis zu „Copland“. Das französische Kino scheint fast vollzählig angereist, und es gehört Umsicht dazu, nicht mit Philip Seymour Hoffman oder Martin Scorsese zusammenzustoßen. John Malkovich erscheint meist in einem Spezialoutfit irgendwo zwischen Strickpullover und Kaftan. Sind sie alle nur Advents- und Frostflüchtlinge? Oder vielmehr Sympathisanten von M6?

Seine Fans nennen ihn so. M6 ist Mohammed VI., König von Marokko und Gründer des Festivals. Erfüllt ein Festival wie dieses nicht den Begriff der westlichen Unterwanderung? Im Westen hat das zwar kaum jemand gemerkt, aber M6 selbst ist der größte Unterwanderer seines Königreichs seit Menschengedenken. Selbstverständlich unterwandert er nach Art der Könige, also von oben. Er ist der Veranstalter des größten Gesellschaftsexperiments auf islamischem Boden. Selbst wer das nicht weiß, beginnt es zu ahnen. Schon zum Frühstück zeigt das größte Kino, in dem nicht die Wettbewerbsfilme laufen, „Lady Chatterley“.

1999 starb unerwartet Hassan II., der das Land, seine Frau und Kinder fast vierzig Jahre lang mit harter Hand regiert hatte. Und was macht der Sohn? Löst den Harem seines Vaters auf, erkennt die Berberkultur an, gründet ein Filmfestival. Eigentlich wollte er auch gleich noch ein neues Familienrecht einführen, aber dann stand eine Million Marokkaner auf der Straße, streng getrennt nach Männern und Frauen, und rief: Um Allahs willen, nein! Ein weiser König muss einen langen Atem haben. Genau wie das Kino.

Wie viel, wie überlaut wurde im Festivalpalast Luft geholt! Das ging von dem sägenden Atem einer Sterbenden im sri-lankischen Autorenfilm „Karma“ über Philip Seymour Hoffmans Schwimmschüleratem in „Jack Goes Boating“ bis zu dem Spezialfall der Atmung in Augenblicken größter menschlicher Nähe. Das geduldige, freundliche Publikum ging bald dazu über, dezenten, doch wohl abgestuften Applaus für die gelungenste Kopulation zu spenden. Fast immer in diesen leisen Filmen mit dem lauten Luftholen war die Frage, wie Männer mit Frauen leben, oder, genauer: Wie leben Frauen mit Männern?

Den lautesten Maschinenatem hatte Sergej Uschitels eindrucksvolles sibirisch-stalinistisches Dampflokomotivendrama „The Edge“. Aber am schwersten ist das Atmen in der Wüste. Gerade wenn vier Männer und eine Frau nur vier Flaschen Wasser haben. Ein Bewerbungstest artet zu einem Überlebenskampf aus. Was für eine Sicherheit in der Wahl seiner Mittel hat der junge marokkanische Regisseur Talal Selhami und – welch langen Atem hat seine Geschichte! Wie höhnisch reagiert das Publikum, als einer der unfreiwilligen Wüstensöhne die Frau beschimpft und bedrängt. Wenn doch eine ganze Gesellschaft so leicht ins Freie gelangen könnte wie das Kino eines Landes!

Nachdem sich 2003 in Casablanca zwölf Selbstmordattentäter in die Luft sprengten, forcierte der König eine neue „Moudawwana“, ein neues Familienrecht. Marokkos Frauen dürfen sich nun scheiden lassen, das Sorgerecht für ihre Kinder beantragen und vieles mehr. Aus Eigentum wurde ein Mitmensch, rein theoretisch. So wie M6 es vorlebt mit seiner einen Frau, einer Informatikerin, die ihn statt mit Schleier mit wehendem roten Haar heiratete. Seitdem ist die Gesellschaft Marokkos tief verunsichert: Ist nun das Ende aller Dinge und vor allem das jeder Ordnung gekommen? Oder könnte dies ein neuer Anfang sein?

Auf diese Zweifel traf am letzten Festivaltag Feo Aladags deutscher Film „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli als junger, in Deutschland geborener Mutter, die mit ihrem Sohn die Türkei und ihren türkischen Mann verlässt und nach Deutschland zurückgeht. Es war eine atemlose Spannung im Saal. Als die jüngere, unverheiratete Schwester gesteht, schwanger zu sein, erhebt sich ein männliches Raunen der unguten Erkenntnis: „So endet das also!“ Als kurz darauf die Mutter der Töchter „Wir sind ruiniert!“ ausruft, folgt ein Auflachen: Nein, so schnell doch nicht! Der Beifall für diesen großartig verhaltenen Film, der alle Spannungen, alle Liebe austrägt, war wohl der längste des Festivals. Er bekam den Darstellerpreis – für sein gesamtes Ensemble.

Marokko ist ein guter Ort, alle Gewissheiten zu vergessen. Und vielleicht ist der größte Feind aller Wahrheit ohnehin nicht die Lüge, sondern es sind die Überzeugungen. Nirgends lernt man das sinnfälliger, versöhnender auch, als im Kino.

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