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Heiliger Bimbam. Szene aus Ulrich Seidls Film „Paradies: Glaube“.

© Coproduction Office

Filmfestival Venedig: Heilige Sünde

Das Filmfest von Venedig steht im Zeichen von Religion und Radikalität: Ulrich Seidl präsentiert „Paradies: Glaube“ - und es läuft der erste Film einer Frau aus Saudi-Arabien.

Kreuze mit und ohne Jesus, Kreuze in jedem Zimmer, Ausnahme: das Bad. Auf schwarzem Tuch gedruckte Sprüche an der Schlafzimmerwand, die zum Frühaufstehen und zur sexuellen Enthaltsamkeit mahnen. Ein Foto von Papst Benedikt dem Bajuwaren neben dem Küchenfenster. Fehlt nur noch, dass die Glasbausteine mit Heiligenmotiven bemalt wären, dann wäre das Haus eine Kirche.

In diesem zweistöckigen Sanktuarium wohnt, irgendwie lebendig begraben, die Krankenschwester Anna (Maria Hofstätter), allein. Ihr Leben – und ihre Liebe – weiht sie Jesus, und in Augenblicken sündiger Selbstvergessenheit darf ihr Lieblingskruzifix schon mal unter die Bettdecke. Wir sind in einem Film des Österreichers Ulrich Seidl. Der hatte zuletzt in Cannes mit „Paradies: Liebe“, wie immer teils mit mit Profischauspielern, teils mit Laien besetzt, von der Einsamkeit älterer Frauen erzählt, die in Kenia gegen Geld Sex – und Liebe – suchen. Nun also „Paradies: Glaube“, und auch dieses Paradies ist, wie immer bei Seidl, nichts anders als die Hölle.

Mit Macht scheint sich das 69. Filmfestival von Venedig, nach Mira Nairs Eröffnungsfilm „The Reluctant Fundamentalist“, am Thema Glauben festzubeißen. Zugespitzt: am Terror, den Sektierertum und religiös gespeister Fundamentalismus zuerst in jenen Menschen anrichten, die sich zu seinen Dienern machen. Anna stellt sich in ihrem Sommerurlaub die Aufgabe, als Klinkenputzerin Wildfremde mit hölzernen Madonnen zu beschenken, damit „Österreich wieder katholisch wird“. Dabei gerät sie mal an verwahrloste Messis, mal an dem Alkohol verfallene Russinnen oder an einen Witwer, der sehr fidel mit einer Geschiedenen zusammenlebt. Das Ergebnis von Annas Wohnküchenpredigten fällt durchweg bescheiden aus.

„Paradies: Glaube“ ist ein langsamer, präziser, schmerzhafter und vor allem stiller Film – in schrillem Kontrast zu den italienischen Medien, die wegen der „Sexszene“ mit dem hölzernen Heiland prompt Skandal schreien. Der Religions- und sehr körperliche Ehekrieg, den Anna mit ihrem querschnittsgelähmten, nach zwei Jahren Abwesenheit zurückgekehrten muslimischen Ehemann Nabil (Nabil Saleh) führt, interessiert dagegen offenbar weniger. Dabei bricht erst er Annas Fanatismus auf: Sollte der Gott, der ihr derart harte Prüfungen auferlegt, auch nur so grausam sein wie die Welt selber?

Seidls Filme sind Ereignisse, ob man sie nun wegen ihrer Schonungslosigkeit scheußlich findet oder schätzt, und „Paradies: Glaube“ ist dies in ganz besonderem Maß. Denn er macht, für Seidl neu, Hoffnung – allerdings eine, von der die Protagonistin noch nicht weiß. Ob „Paradies: Hoffnung“, der vermutlich auf der Berlinale zu sehende letzte Teil der aus einem gewaltigen, zusammenhängenden Schnittmaterial komponierten Trilogie, diesen Weg weitergeht? Hauptsache, der 60jährige Regisseur wird nicht gleich altersmilde.

Filmfestivals allerdings brauchen auch Ereignisse der plakativeren Art, und da gehört „Wadjda“ von Haifaa Al Mansour gewiss dazu. Denn „Wadjda“ – so heißt die von Waad Mohammed verkörperte kindliche Heldin – ist nicht nur das Debüt der ersten Filmregisseurin Saudi-Arabiens überhaupt, sondern erzählt so unerschrocken wie unaufdringlich vom Heranwachsen in einem Gottesstaat, in dem der Islam zur Durchsetzung patriarchaler Prinzipien bis in den letzten Alltagswinkel benutzt wird. Wer sich die Fußnägel schminkt, fliegt im Zweifel von der Schule. Mädchen, die ihre Regel haben, dürfen den Koran nur mit Handschuhen anfassen. Und Fahrradfahren macht unfruchtbar.

Die zehnjährige Wadjda aber will unbedingt ein Rad, um mit dem netten Nachbarsjungen um die Wette zu fahren, und sie ist klug und zäh genug, sich dafür das Geld selbst zu verdienen – und sei es als Siegerin eines Koran-Rezitationswettbewerbs. Die Mutter, selber davon bedroht, dass ihr Mann sie wegen einer zusätzlichen Ehefrau verlässt, verbietet ihrer Tochter vieles und lässt ihr im Haus doch viel Freiheit.

Man könnte sagen: ein Kinderfilm – so übersichtlich in Personal wie letztlich tröstlich in seiner Botschaft. Oder ein ethnografischer Film, der seine Geschichte nur als Vorwand benutzt, um von der Lebensweise eines seltsam mittelalterlich strukturierten Volksstamms zu erzählen?

Nein, es ist eben unser 21. Jahrhundert, von dem auch „Wadjda“ erzählt – ein Jahrhundert, in dem viele Kräfte daran mitwirken, die Weltbevölkerung in eine gruselige Vergangenheit zurückzubefördern, mit lautem und mit leisem Terror. Nun wünschte man sich nur noch, der von der Berliner Razor Film produzierte und von Lutz Reitemeier („Die Spielwütigen“, „Tuyas Hochzeit“) brillant fotografierte Film käme zuallererst in Saudi-Arabien ins Kino. Wenn es denn dort ein Kino gäbe.

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