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Kultur: Filmfestival von Karlovy Vary: Das Leben kann so schön sein - Die Hitparade der Verzweiflungen läßt dennoch den Optimismus gewinnen

Am Zeitungsstand konkurriert "Der unentbehrliche Reiseführer durch Karlsbad" mit dem benachbarten Ratgeber "Karlovy Vary. The Town of Film and Film Festivals".

Am Zeitungsstand konkurriert "Der unentbehrliche Reiseführer durch Karlsbad" mit dem benachbarten Ratgeber "Karlovy Vary. The Town of Film and Film Festivals". Ein "angenehmes Gefühl der Bewahrsamkeit vor den Qualen der Umwelt", registrierte ein Reisender hier um 1890 und führte diese Wirkung ganz im Sinne des "Unentbehrlichen Reiseführers" sofort auf die Wirkung der Quellen zurück. Einsetzbar gegen Darm-Erkrankungen, Unstimmigkeiten des Stoffwechsels, Affektationen der Luftwege. Filmleute und andere Sprudelverächter dagegen plädieren für ein mehr geistiges Verständnis von Quelle. Für Karlovy Vary sei es der Film! Immerhin hat Europas einst größtes Kurbad ein A-Festival, genau wie Berlin, Cannes und Venedig. Ist da ein Unterschied? Natürlich. Cannes, Berlin und Venedig besitzen keine Mineralquellen. Auch fehlt ihren Festivals jegliche authentische Quellenerfahrung. Sie waren noch nie so nah am Versiegen wie in Karlovy Vary.

Im Juli gibt es dort genau zwei Arten von Menschen. Man erkennt sie an ihrer Quellen-Orientierung. Menschen mit mehr traditionellem Quellenverständnis schlafen grundsätzlich nie bei knapp 10 Grad im Schlafsack auf der Freiluft-Bühne vorm Hotel "Thermal" und meiden vorsichtshalber sämtliche Open-air-Konzerte, insofern sie nicht auf der Kur-Promende oder in den Kolonnaden stattfinden. Auch sind sie meist etwas älter und sehen mit leichtem Misstrauen auf die großen Filmplakate, die mitten im Tepla-Flüsschen aufgestellt sind, um den freien Blick auf die berückende Architektur am anderen Ufer zu behindern. Eine Archtitektur, deren Eindruck Le Corbusier so zusammenfasste: Karlsbad wirke auf ihn wie eine Versammlung von Torten. Nun ist es am Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch ganz selten möglich, durch eine real existierende k. u. k-Torten-Versammlung zu laufen, so dass den Filmplakaten gewissermaßen die Aufgabe der Wiederherstellung des Realitätsprinzips obliegt. Wer etwa mit vollkommenem 19.-Jahrhundert-Gefühl aus dem berühmten "Grand-Hotel Pupp" tritt, fällt mitten hinein in das Gesicht der Leninverehrerin Gisela (Hannelore) Elsner, der "Unberührbaren". "Die Unberührbare" ist der deutsche Wettbewerbs-Beitrag.

Hier sind auch Einlasser Cineasten

Wer Filme wie "Die Unberührbare" sieht, gehört zweifellos zur zweiten Gruppe. Deren harter Kern schläft noch auf der Freilichtbühne oder in anderen regensicheren Nischen des Festival-Hotels "Thermal", wenn morgens die ersten Pressevorführungen beginnen. In den kolonnadenbeschirmten Themalquellen erblickt er nach nasskalten Juli-Nächten eine freundliche Alternative der Natur zum Gebirgsbach, traut sich aber unter den kritischen Blicken der Sprudelanhänger dann doch nie, von der Quelle Karls IV. (64 Grad) oder der Oberen Schlossquelle (50 Grad) profanen Reinigungsgebrauch zu machen. Er füllt sämtliche Festival-Kinos bis auf den letzten Platz, wobei das Wort "letzter Platz" hier wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen ist. Ein Kino gilt dann als voll, wenn es unmöglich geworden ist, vom Eingang aus noch ein paar Schritte hinein zu tun. Bei uns wird man während der Berlinale öfter mal aufgefordert, seinen Fußbodenplatz zu räumen, um die Fluchtwege freizuhalten. In Karlovy Vary sind auch die Einlasser Cineasten. Sie verstehen nicht, warum jemand, solange der Film läuft, fliehen muss.

Eva Zaorolova, eine sehr junge ältere Kino-Journalistin, ist die Programmdirektorin. Man merkt ihr sofort an: das hier ist ihr Festival. Alles selbst ausgesucht. Oder fast alles. Und die zwei Jahre Mitte der Neunziger, als man in Prag ein Gegen- und Konkurrenzfestival versuchte - längst vergessen. "Die hatten doch keine Ahnung von Film". Eva Zaorolova winkt ab. Aber dass die Prager mit ihrem "Golden Golem" sofort die Einstufung als A-Festival bekamen, kränkte sie damals schon etwas. Dann war Prag pleite, und Karlovy Vary - immerhin sechs Monate älter als Cannes, rein festivalmäßig gesehen - wurde das kleinste A-Ereignis der Welt.

Glück ist ein sehr einfacher Zustand und - verfilmt, beschrieben, besungen - so oft trivial. Taugt das Glück für ein A-Festival? Unglück ist viel besser. Unendlich, genau wie Gott, und fast nie trivial. Kunst ist, was schlecht ausgeht! Überprüfen wir das mal am Wettbewerb. Dichter Bunin ("His wifes diary", Russland 2000): erst Krankheit zum Tode, dann Herzinfarkt. Deutsche Dichterin ("Die Unberührbare", Deutschland 2000): Tod durch Fenstersprung. Irischer Dichter: Ewan McGregor als James Joyce geht es dann doch etwas besser ("Nora", Irland, Deutschland, Italien 1999). Isländischer junger Mann: Verzweiflung, Schizophrenie, den Fenstersprung übernimmt ein naher Freund ("Angels of the Universe", Irland, Norwegen, Schweden, Deutschland, Dänemark 2000). Iranische junge Frau: Selbstverbrennung - "The bride of fire" (Iran 2000). Nastassja Kinski als Mutter - Nervenheilanstalt, Rückkehr bis Filmschluss ungewiss ("The Magic Marciano", USA 2000). Ein richtiges Selbstmörder-Festival! Eine Hitparade der Verzweiflungen. Die meisten Suizide waren, kinematographisch betrachtet, eher konventionell gehalten. Einen richtig miesen Selbstmord konnten wir nicht entdecken.

Nun zu den absolut innovativen, den vorwärtsweisenden Suiziden. Natürlich sind Hannelore Elsner und ihrem schwarz-weißem Mantel ein ewiger Platz in der Ikonographie der Verzweiflungen sicher, aber irgendwie, so hörte man, schien Oskar Roehlers Film der Jury dann doch - zu selbstmörderisch. Zu pessimistisch? Dafür gewann er den Sonderpreis der Internationalen Föderation der Filmclubs.

Nur Kino kann Geschichten so erzählen

Bleibt noch ein sagenhafter Sprung - von der Eisenbahnbrücke. Bleibt, überlebensgroß, das koreanische "Peppermint Candy" von Lee Chang-Dong, sein zweiter Spielfilm. Bleibt die tödliche Verzweiflung des Young-Ho, die sich weitet zur Geschichte eines ganzen Landes. Einmal, als er noch ein Junge war, gab ein Mädchen aus der Bonbonfabrik Young-Ho an dieser Eisenbahnbrücke ein Pfefferminzbonbon. Da war alles Anfang, Unschuld, unverdorbenes Leben und, noch kaum erkannt, Glück. Was sind Selbstmörder anderes als Menschen, die plötzlich wissen, dass sie ihr Leben verdorben haben und das Leben sie. Und dass sie - zuletzt - mit diesem Leben nichts, gar nichts zu tun haben. Nach den Pfefferminzbonbons kommt die koreanische Armee. Und taugt, wer das überstand, noch für den Mädchen- und Brückengeschmack von Pfefferminzbonbons? "Peppermint Candy" ist eine einzige kunstvolle Rückblende, sie versteht sich auf Härte und Zartheit gleichermaßen. Sie zeigt uns ihre Motive, lässt sie liegen, vergisst sie, nimmt sie wieder auf - und man hat jenes Gefühl, das man auf Festivals sucht: nur Kino kann diese Geschichte so erzählen.

Noch einen Film gab es, dem man sich kaum entziehen konnte. "E tu eles" ("Ich du sie") des 30-jährigen Brasilianers Andrucha Waddington. Er bekam den Hauptpreis, den Kristallglobus. Denn nicht Bären, Löwen, Palmen oder andere Kindergeburtstagspreise werden hier verliehen, sondern die gerade wunderbar neu designte Kugel in den Armen einer Frau. ie Kugel ist halb Seifenblase, halb Erdball - wie das Kino selbst. Auch "E tu eles" ist halb Seifenblase, halb Erdball. Es hat alle Seifenblasen-Farben - wo gäbe es blauere Himmel, leuchtendere Halbwüsten? -, es wiegt fast nichts und hat doch das erdenschwerste Thema überhaupt. Eine Frau in Brasilien. Aber es handelt sich um eine Frau mit drei Männern. Und sie ist, gewissermaßen, das Familienoberhaupt incognito. Feministinnen würden "E tu eles" sicher für einen feministischen Film halten. Aber das Wunderbare ist, dass er mit solchen Zurechnungen nichts anfangen könnte. Seine Poesie, sein Witz, seine überwältigende Einfachheit kommt aus dem freien Spiel jenseits aller Programme. Aus seiner programmatischen Programmverweigerung. Und welch wunderbare Idee - ein vor Daseinsfreude berstender Film voller Geburten gewinnt den Hauptpreis auf einem Selbstmörder-Festival im einst mondänsten Kurbad Europas. Der "Unentbehrliche Reiseführer" wird doch ein Filmkapitel ergänzen müssen.

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