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Das offizielle Festival-Plakat ist dieser Tage überall in Cannes zu sehen.

© AFP/Anne-Christine Poujoulat

Filmfestival vor der Eröffnung: Cannes setzt auf noch mehr Exklusivität

An diesem Dienstag eröffnen die 71. Filmfestspiele von Cannes. Das wichtigste Festival der Branche spürt die Konkurrenz der Streamingdienste – und gibt sich noch exklusiver. Das könnte die Krise verschärfen.

Von Andreas Busche

Mitte April nutzte Cannes-Präsident Thierry Frémaux zwei große Interviews mit den Branchenblättern „Hollywood Reporter“ und „Variety“, um sich über seinen undankbaren Job als künstlerischer Leiter des wichtigsten Filmfestivals der Welt zu beklagen. „Egal, was wir machen, die Kritiker finden an Cannes immer etwas zu mäkeln.“ Über die Luxusprobleme von Frémaux wäre Berlinale-Chef Dieter Kosslick sicher noch froh, er sah sich zuletzt ja ganz grundsätzlicher Kritik an seiner Person ausgesetzt.

Der Ärger, mit dem man sich in diesem Jahr an der Croisette herumschlägt, ist zum Großteil allerdings hausgemacht: das Zerwürfnis mit Netflix über die Frage, ob man einem Streamingdienst, der offensichtlich kein Interesse mehr am traditionellen Kino zeigt, eine Werbe- Plattform bieten sollte; der Bann von Smartphones am roten Teppich sowie die Verlegung der morgendlichen Pressevorführungen auf den frühen Abend, zeitgleich zur Gala-Premiere, um die Feierlichkeiten nicht mit möglicherweise schlechter Vorab-Presse zu stören.

Auf den ersten Blick haben die Entscheidungen wenig miteinander zu tun. Tatsächlich sind sie aber Indikatoren, dass auch ein Prestige-Festival wie Cannes, als Bindeglied zwischen Glamour und Autorenkino, in einer Legitimationskrise steckt. Noch pilgern Hollywoods Größen an die Côte d’Azur – in diesem Jahr leitet Cate Blanchett die Jury, „Solo: A Star Wars Story“ feiert (außer Konkurrenz) seine Weltpremiere –, aber für die Studios ist Cannes längst kein Pflichttermin mehr. Die Festivals in Toronto und Venedig sind für die Oscar-Saison inzwischen wichtiger. So bleibt Cannes eigentlich nur noch der Mittelbau des US-Kinos; dummerweise wandern dessen Regisseure aber gerade massenweise zu Netflix und Amazon ab.

Tiefergehende Analysen könnten auf der Strecke bleiben

Die Strategie des Festivals ist leicht zu durchschauen, Thierry Frémaux reagiert mit seinen Ankündigungen auf den schleichenden Wandel in der Filmindustrie. Cannes will sich noch stärker als exklusives Event positionieren: hochwertige Filmkunst statt „Content“ für ein binge-süchtiges Streamingpublikum, keine hässlichen Schnappschüsse mehr für den Plebs am roten Teppich und keine Privilegien für Journalisten. Warum sollten Hollywoodstars auch nach Cannes kommen, wenn sie schon vor der Gala-Premiere im Netz die schlechten Kritiken ihres Films lesen können?

Was sich auf den ersten Blick wie das Problem eines exklusiven Zirkels liest, hat tatsächlich weitreichende Implikationen für das Selbstverständnis für Cannes als Hochburg der Cinephilie. Denn die Verschiebung der Pressevorführungen setzt die traditionelle Filmkritik, die sich nicht mit meinungsstarken 280 Zeichen auf Twitter begnügt, stärker unter Zeitdruck. Auf der Strecke bleiben könnten im Kampf um Aktualität und Aufmerksamkeit tiefergehende Analysen. Denn im Gegensatz zur Berlinale ist Cannes kein Publikumsfestival, sondern ein Branchentreffen, das Öffentlichkeit generiert. Die Journalistinnen und Journalisten, die in Cannes ohnehin nie bevorzugt behandelt wurden, spielen dabei seit jeher eine wichtige Rolle. Frémaux schwächt mit diesem Schritt weiter die kriselnde Institution „Filmfestival“, die – gerade unter Jüngeren – längst nur noch eine Teilöffentlichkeit innerhalb einer sich rasant diversifizierenden Medienkonsumgesellschaft darstellt.

In einem anderen Punkt hat Thierry Frémaux allerdings recht, wenn er sich über die Kritik an Cannes beschwert. Die 71. Ausgabe des Filmfestivals, das am Dienstag mit „Everybody Knows“ des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi eröffnet wird, steht in einem besonders kritischen Licht. Sie markiert auch das Jahr eins nach Harvey Weinstein, der mit seiner Entourage wie nur wenig andere Figuren das Bild der Croisette geprägt hat. Hier erlebte der damalige Miramax-Boss mit Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“, der 1994 die Goldene Palme gewann, seine Krönung zum unumstrittenen Filmmogul. Cannes ist aber auch der Ort, an dem sich einige der Vergewaltigungen und Vorfälle von sexuellem Missbrauch ereigneten, die Weinstein vorgeworfen werden.

Jurorin Jessica Chastain prangerte das desaströse Frauenbild im Wettbewerb an

Das offizielle Festival-Plakat ist dieser Tage überall in Cannes zu sehen.
Das offizielle Festival-Plakat ist dieser Tage überall in Cannes zu sehen.

© AFP/Anne-Christine Poujoulat

Das Laissez-faire an der Croisette zwischen Galas, Partys und Meetings in der Hotelsuite begünstigt die lockeren Machtstrukturen in der Filmbranche. Frémaux hielt sich nach den Anschuldigungen gegenüber Weinstein bedeckt. Im „Variety“ sagte er im April, dass es nicht die Aufgabe eines Filmfestivals sei, MeToo-Veranstaltungen zu organisieren. Diese Resilienz steht in einem augenscheinlichen Zusammenhang mit einem alten Cannes- Problem: dem traditionell geringen Anteil von Regisseurinnen im Wettbewerb. Auch in diesem Jahr sind es nur drei von 21: die Libanesin Nadine Labaki mit „Capernaum“, Eva Husson mit der französisch-kurdischen Produktion „Girls of the Sun“ und die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher mit „Happy as Lazzaro“. Als bisher einzige Regisseurin gewann Jane Campion 1993 mit „Das Piano“ die Goldene Palme.

Die Berufung von Cate Blanchett zur Jury-Präsidentin ist nicht zuletzt eine Reaktion auf Jessica Chastain, die sich mit ihren Jury-Kolleginnen 2017 über das desaströse Frauenbild im Wettbewerb beschwerte. Abgesehen davon unterstützt das Festival nur eine Veranstaltung der „50/50 2020“-Initiative, die sich für Gleichberechtigung in der französischen Filmbranche starkmacht. Diese Schwerfälligkeit, auf einen gesellschaftlichen Wandel zu reagieren, hat viel damit zu tun, dass Cannes noch immer einem Old Boys’ Club gleicht. Nicht zufällig waren Woody Allen und der letzte Woche aus der Academy of Motion Picture Arts and Sciences ausgeschlossene Roman Polanski vor MeToo immer gern gesehene Gäste.

Da passt es, dass 2018 ein anderer alter Bekannter nach Cannes zurückkehrt, der dort zuletzt als Persona non grata betrachtet wurde. Die Teilnahme von Lars von Trier mit seinem Serienkiller-Film „The House that Jack Built“ (außer Konkurrenz) ist eine kleine Sensation, nachdem der dänische agent provocateur 2011 wegen flapsiger Nazi-Sprüche auf der Pressekonferenz zu „Melancholia“ vom Festival ausgeschlossen worden war. Wie es heißt, habe sich Frémaux schon seit einer Weile um von Trier bemüht. Zu ihm gesellen sich mit Asghar Farhadi, Nuri Bilge Ceylan, Matteo Garrone, Zhangke Jia und Hirokazu Kore-eda weitere ehemalige Palmen-Gewinner im Programm – sowie, gewissermaßen ein Heimspiel, Jean-Luc Godard.

Dieser Jahrgang verspricht viele neue Gesichter

Für ein Festival, dessen Wettbewerb in der Vergangenheit oft allzu altmeisterlich-vorhersehbar ausfiel, verspricht dieser Jahrgang allerdings auch viele neue Gesichter: die amerikanische Regie-Hoffnung David Robert Mitchell, den unberechenbaren junge Franzosen Yann Gonzalez und den südkoreanischen Auteur Lee Chang-dong. Debütant Abu Bakr Shawky bringt Ägypten zurück an die Croisette und der polnische Regisseur Pawel Pawlikowski präsentiert den Nachfolger seines Oscar-Films „Ida“. Das deutsche Kino muss sich nach zwei guten Jahren mit einem Film in der Reihe „Un Certain Regard“ begnügen. Ulrich Köhler wird mit „In my Room“ aber hoffentlich ähnlich euphorische Kritiken erhalten wie im vergangenen Jahr Valeska Grisebachs „Western“. Wim Wenders Dokumentarfilm „Papst Franziskus: Ein Mann seines Wortes“ läuft in einer Sondervorführung.

Für politische Spitzen dürften die Nominierungen des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der mit „Taxi Teheran“ 2015 den Goldenen Bären gewann, und des russischen Theaterregisseurs Kirill Serebrennikov sorgen, gegen die in ihren Heimatländern weiter Verfahren laufen. Dem damals inhaftierten Panahi gelang es 2011, seinen Film „This is not a Film“ auf einem USB-Stick nach Cannes zu schmuggeln. Während sich Panahis Situation nach internationalen Protesten wieder beruhigt zu haben scheint, hat die russische Justiz den Hausarrest für Serebrennikov im Januar noch einmal verlängert. Dem regimekritischen Regisseur werden Betrug und Unterschlagung in Millionenhöhe vorgeworfen. Es scheint, als wolle Cannes der Berlinale den Titel des politischsten Filmfestivals nicht kampflos überlassen.

Für Frémaux’ persönliche Zukunft wird jedoch eher von Bedeutung sein, wie sich der Streit mit Netflix – und damit die inhaltliche Ausrichtung des Festivals – entwickelt. Sein „Netflix-Bann“ wird sich langfristig kaum aufrechterhalten lassen, Netflix-CEO Reed Hastings hat inzwischen Gesprächsbereitschaft signalisiert. Allerdings muss Cannes auch nicht jeden Quatsch mitmachen. Genauso wenig sollte sich Frémaux aber von der französischen Kinowirtschaft instrumentalisieren lassen, der mit dem Streamingdienst gerade ein mächtiger Konkurrent erwächst. Vielleicht zeigt sich schon in diesem Jahr, ob Cannes aus dem Konflikt gestärkt hervorgeht.

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