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Filmfestspiele in Venedig: Das Lieben der Anderen

Regisseure wie Soderbergh, Satrapi und Steve McQueen beleuchten die Leben von einsamen Großstädtern. Das Publikum erkennt wie Entfremdung aussieht und durchlebt damit das Leiden der Protagonisten.

Mitternacht, Geisterstunde, langsam schieben sich die Zeiger nach oben. Schlag zwölf wird gefeiert, getanzt und gemordet – und Big Ben explodiert. Christian Marcleys Kunstbiennale-Beitrag „The Clock“ montiert Szenen aus Hunderten von Filmen hintereinander, in denen Uhren zu sehen sind oder die Zeit angesagt wird. Kirchenuhren, Standuhren, Bahnhofsuhren, Digitalanzeiger, Reisewecker, eine Rolex, Sanduhren, Spieluhren – eine 24-Stunden-Collage, in der es immer genauso spät ist wie beim Betrachter. Echtzeitkino in Venedig, abseits der Filmfestspiele. Für jene Handvoll Besucher, der es gelungen ist, sich trotz ahnungsloser Biennale-Mitarbeiter telefonisch anzumelden, ist das Arsenale wegen „The Clock“ an diesem Wochenende rund um die Uhr geöffnet. Wir sind tatsächlich registriert: Ein Wachmann zeichnet unsere auf Italienisch recht skurril wiedergegebenen Namen auf seiner Liste ab.

Es ist finster auf dem historischen Werftgelände, die 300 Meter lange Corderie-Halle menschenleer. Ein fahler Mond hatte eben noch über der Lagune gehangen, wo das Branchenmagazin „Variety“ auf der Dachterrasse des Hotels Danieli eine 68er-Party veranstaltet (passend zum 68. Filmfest und anlässlich eines Ehrenpreises für Constantin-Chef Martin Moszkovicz). Seltsame Zeitverschiebung: Während unten die Vaporetti, Gondeln und Motorboote um die Luxusyachten herumkurven, verteilen Kellnerinnen im Texas-Outfit Pferde-Carpaccio, und zu den Hits der Sixties flimmern Fotos von Vietnamkrieg und Revolte.

Man mag nicht glauben, was ein aus der „New York Times“ übernommener Essay in der Zeitung „Repubblica“ verkündet. Nach dem Ende der Postmoderne breche nun das Zeitalter der Authentizität an, der Wahrhaftigkeit und der Werte. So viele Zeichen, so viel Zitat: Die Diskolichter der Party streifen über das Gemäuer der Serenissima. Das passt zu den bisherigen Filmen, deren Helden kein bisschen mit sich identisch sind. Entfremdung, Isolation, Einsamkeit in der Großstadt.

In Steven Soderberghs Viren-Thriller „Contagion“ wird die Distanz überlebenswichtig. Bloß nicht berühren, lautet die Devise für Kate Winslet, Marion Cotillard, Matt Damon und Laurence Fishburne, denn ein hochansteckendes Virus ist aus Hongkong nach Amerika gelangt. Während in den Labors fieberhaft nach einem Gegenmittel geforscht wird, breitet sich die Epidemie schnell aus, und mit ihr Panik, Chaos, Vandalismus. Nach 26 Millionen Toten – Patientin Nummer eins Gwyneth Paltrow stirbt nach wenigen Minuten – ist endlich ein Impfstoff entwickelt worden. Weil dessen weltweite Verteilung aber Monate dauert, wird die Reihenfolge der Impfberechtigten per Los ermittelt. Eine Lotterie entscheidet über Leben und Tod – oder zumindest darüber, wie lang man in Quarantäne bleiben muss.

Minutiös registriert Soderbergh, wie das öffentliche Leben zusammenbricht. Geplünderte Supermärkte, verlassene Shopping Malls, keine Müllabfuhr mehr, sogar die Krankenschwestern streiken. Der Mensch ist des Menschen Lebensgefahr. Wie funktioniert Gemeinschaft mit so viel Misstrauen? 9/11, Katrina, der Hurrikan Irene, demnächst vielleicht Sars: Das katastrophengeplagte Amerika versichert sich in „Contagion“ der Bedingungen von Gesellschaft. Menschen müssen sich versammeln, verliebte Teenager knutschen und Erwachsene einander die Hand schütteln können.

Als exzellenter Genrefilmer weiß Soderbergh übrigens, wie er sein Publikum auf die unsichtbare Gefahr konditioniert. Noch Stunden nach dem Film vermeidet man Türklinken, Fahrkartenautomaten oder öffentlichen Touchscreens und schreckt zusammen, wenn im Bus einer niest.

Auch der britische Regisseur Steve McQueen denkt über Beziehungsunfähigkeit nach. In „Shame“, dem zweiten Langfilm des Videokünstlers nach „Hunger“, ist es jedoch keine äußere, sondern eine seelische Kondition, die den attraktiven New Yorker Business-Mann Brandon (Michael Fassbender) zum bindungsunfähigen Nymphomanen macht. Es gibt viele Bettszenen in diesem Film, gekauften Sex, Quickies, Blowjobs, Masturbation, Internetpornos: schnelle Befriedigungen, die Brandons wortlose Sehnsucht nach so etwas wie Kontakt nur ins Unermessliche steigert. Man hat selten so freudlosen Sex im Kino gesehen, forcierten, hektischen, vergeblichen Sex als Ausdruck einer existenziellen Verzweiflung und emotionalen Impotenz, deren Ursprung in der offenbar schrecklichen Kindheit von McQueen klugerweise ausgespart wird. Nur als Brandons jüngere Schwester auftaucht (irrlichternd intensiv: Carey Mulligan) und in einer Bar hoch über der Stadt eine traumhaft verlangsamte Version von „New York, New York“ singt, bricht die Erstarrung einen Moment lang auf.

Bitte berühren: Ein kleiner, stiller Film im Wettbewerb läuft den großen Namen bisher den Rang ab. Der Grieche Yorgos Lanthimos („Dogtooth“) erzählt in „Alps“ von einem aus zwei Krankenpflegern, einer Bodenturnerin und ihrem Coach bestehenden Verein, der sich „Alpen“ nennt und Trauernden hilft, über ihren Verlust hinwegzukommen, indem die Vereinsmitglieder die Rolle der Toten einnehmen. Sei es die der tennisspielenden Tochter, des untreuen Ehemanns, den die Gattin inflagranti erwischte, oder der an Diabetes gestorbenen Frau, deren Mann die vielen Ehekräche bedauert.

Auch eine Sucht: Für eine der Rollenspielerinnen funktioniert das Leben der Anderen zunehmend als Surrogat für die eigene Existenz. Von wegen Authentizität. Das Vorgetäuschte wird ihre Identität, sie findet nicht mehr zurück in die Realität. Wer, wenn nicht der Kinozuschauer könnte diese Metamorphose besser verstehen.

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