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Das ehebrecherische Paar. Julien (Mathieu Amalric) und Esther (Stéphanie Cléau).

© arsenalfilm

Filmkritik: "Das blaue Zimmer" nach Georges Simenon: Sex und Tod in St. Justin

Mathieu Amalric, der umtriebige Schauspieler, und seine Lebensgefährtin Stéphanie Cléau haben mit "Das blaue Zimmer" einen sehr untypischen Simenon-Roman verfilmt. Und stehen, als fremdgängerisches Liebespaar, gemeinsam vor der Kamera.

Schon wieder ein französischer Film, aber nicht so einer; keine jener neuen Komödien mit moralischem Mehrwert, im Gegenteil. Eine Liebesgeschichte also? Schon, aber eine merkwürdig abwesende, gewesene. Ein Thriller vielleicht? Gut, es gibt Tote, aber um sie geht es nicht in erster Linie, wenn von Linien in diesem nichtlinearen Film überhaupt die Rede sein darf. Wenigstens ein Gerichtsdrama? Nun, spät die eine Szene im Gerichtssaal, aber das ist es auch schon.

Eine Literaturverfilmung! Genau, und so fängt der Roman an: „Hab ich dir wehgetan? – Nein. – Bist du mir böse? – Nein.“ (Die Frau hat den Mann in die Lippe gebissen, und es blutet ein bisschen.) „Wird deine Frau dir Fragen stellen? – Ich glaube nicht. – Stellt sie dir manchmal welche?“ Und dann: „Die Worte waren ohne Belang. Sie redeten zum Vergnügen, wie man nach der Liebe redet, wenn man den Körper noch spürt und der Kopf leer ist.“

Merkwürdige Einstiegssätze für etwas, das man einen Krimi von Georges Simenon nennen soll, geschrieben 1963, da war der berühmte Belgier, der 193 (!) Romane hinterlassen hat, genau 60 Jahre alt. Nun hat Mathieu Amalric, der berühmte Schauspieler, der manchmal Filme dreht, etwa 2010 das schöne Roadmovie „Tournée“, diesen sehr ungewöhnlichen, geschmeidig zwischen Zeiten und Orten und Gefühlen hin- und hertänzelnden Roman kongenial in Bilder übersetzt. Ein Mann und eine Frau im „Hôtel de la Gare“ eines Provinzstädtchens, sie kennen sich seit der Schulzeit, sie haben einander jahrelang nicht gesehen, sie sind anderweitig verheiratet, er handelt mit Agrarfahrzeugen, sie ist Apothekerin, und donnerstags treffen sie sich zum Liebemachen im Hotel, und ein paar Wörter machen sie auch. „Könntest du dein ganzes Leben mit mir verbringen?“, fragt sie. „Sicher“, sagt er, und sie: „Kannst du dir vorstellen, wie wir die Tage verbringen würden?“ Und er: „Mit der Zeit würden wir uns daran gewöhnen.“ – „Woran?“ – „An uns beide.“

Vor Gericht: Julien (Mathieur Amalric).
Vor Gericht: Julien (Mathieur Amalric).

© arsenalfilm

Ein Hotelzimmer in Paris, eines jener Zimmer, in denen vom Kingsize-Bett nur noch das an die Wand gedübelte Kopfteil kündet, und auf der frei gewordenen Fläche sitzt man artig um ein Teetischchen bei einem Glase stillen Wassers. Mathieu Amalric und Stéphanie Cléau, nicht verheiratet, aber gemeinsam lebend und Eltern eines siebenjährigen Sohnes, spielen die Hauptrollen in „Das blaue Zimmer“, und das Drehbuch haben sie auch gemeinsam geschrieben. Stéphanie Cléau arbeitet oft Romane fürs Theater um, aber vor der Kamera stand sie – für den Film ihres Lebensgefährten – zum ersten Mal.

Unmoralische Frage: Ist der Ehebruch, weil so verboten, vielleicht die tiefste, unmittelbarste Form der Liebe? „Fang du an“, sagt sie. Und er: „Da muss was dran sein. Schließlich hat es uns Spaß gemacht, heimlich Liebende zu spielen, obwohl wir zusammenleben. Und diesen reinen Anteil der Liebe wieder aufleben zu lassen, der so schwer zu bewahren ist, diese Anziehung zweier Körper in einem Zimmer.“ Und sie: „Es war meine Idee, dass wir beide das Paar spielen.“

Geheimes Zeichen: das rote Handtuch

Diese sehr intimen Szenen im Hotel, die das Paar in anlauflos vertrauter Wärme zeigen, wirken von Anfang an eher erinnert als gegenwärtig. Sie kehren ein paarmal wieder in einem von Verhören und einrahmenden Rückblenden geprägten Geschehen, das sich immer wieder willig dem Damals überlässt. Aber etwas muss aufgeklärt werden, schließlich ist der Apothekerin der Ehemann seltsam passend weggestorben, und dann kommt auch noch dem Fremdgänger die Ehefrau dramatisch abhanden, die Léa Drucker schön rätselhaft spielt, duldsam, mitwissend vielleicht, schweigend. Ein Verbrechen ist geschehen, oder sind es zwei, und viele Fragen offen. Nur für die ordnungsliebenden Kleinstadtbewohner ist die Sache von Anfang an klar.

Julien Gahyde und Esther Despierre heißen für sie die Schuldigen; der nach 15 Jahren ins beschauliche St. Justin zurückgekehrte Landmaschinenhändler und die schöne Frau des kränklichen Apothekers, die donnerstags immer dieses rote Handtuch über den Balkon hängte, wenn sie Zeit für einen Nachmittag im Liebesnest hatte – haben wir es nicht von Anfang an mitgekriegt? Auch dieses Alltagsmenschenbiotop inszeniert Amalric so präzis und undenunziatorisch wie alles andere, als unaufhaltsame, unbegreifliche Tragödie, die vor allem Julien wie in Dauertrance memoriert. Er wiederholt sich, weil er, die Untersuchungen verlangen es, sich wiederholen muss: staunend. Nur ein, zwei Ausbrüche unterlaufen ihm, Ausbrüche eines sich noch einmal wehrenden, gebrochenen Menschen. Esther dagegen erinnert sich leidenschaftlich, genießend, liebend.

Vor Gericht. Esther (Stéphanie Cléau)
Vor Gericht. Esther (Stéphanie Cléau)

© arsenalfilm

Was man so fragt: Warum haben Sie die Namen des Romans geändert? Amalric: „Tony und Andrée, so heißt doch heute kein Mensch mehr.“ Cléau: „Wir haben ihn Julien genannt, weil Mathieu an einer Verfilmung von ,Rot und Schwarz’ arbeitet.“ Richtig, dort gibt es den Herzensbrecher Julien Sorel, und tatsächlich kommt Amalric mit der Stendhal-Verfilmung nicht recht voran, deshalb dieses schnell gedrehte, fantastisch konzentrierte Nebenwerk. Und Esther? „Wenn wir eine Tochter bekommen hätten“, fügt Cléau hinzu, „hätten wir sie Esther genannt.“

Ein Liebesakt, ein Erinnerungsakt

Stéphanie Cléau, dieses unerhört neue Gesicht des französischen Films, spielt diese Esther so leise und kraftvoll und entschieden, dass ihr durchaus allerlei Böses zuzutrauen ist, allerdings strafmildernd aus Liebe. Mathieu Amalric nimmt sich dagegen völlig zurück, er gibt den nahezu Tonlosen, den Antwortautomaten, den aus der Lebensspur Geschossenen zwischen Glück und Horror – Typ klassischer Psycho-Täter, der seine Tat nicht begreift. Der Film, 76 Minuten kurz, ist von Anfang bis Ende hochspannend: nicht mal wegen des Whodunit, sondern weil Vergangenheit und Gegenwart, in Bild und Ton einander überlappend, hier fortwährend ineinandergeschoben werden: ein Liebesakt, ein Erinnerungsakt.

Letzte Frage an die beiden Erfinder des Spiels und die Spieler zugleich: Wer ist eigentlich schuldig in Ihrem Film? Sagt er: „Sag du“. Sagt sie: „Ich nicht!“ Und er: „Ich auch nicht!“ Großes Gelächter.

In Berlin im Cinemaxx, Kulturbrauerei und Filmkunst 66; OmU im Filmrauschpalast

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