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Beats und Betten. Das Kraftwerk während „The Long Now“.

©  Märzmusik/Camille Blake

Finale des Märzmusik-Festivals: Wer will hier schon schlafen?

30 Stunden Klassik, Jazz und elektronische Experimente: Das Märzmusik-Festival endet mit der vierten Ausgabe von „The Long Now“.

Um Mitternacht fängt der Tresor mit dem Hämmern an! Der Techno-Club liegt gleich neben dem Kraftwerk, wo die 30-stündige Abschlussveranstaltung von Märzmusik stattfindet. Man muss schon die Ohren spitzen, um alles mitzubekommen: Von klassischer Kammermusik und feingestrickter Jazz-Meditation bis hin zu experimenteller Elektronik, Dark Ambient und Field Recordings mit Vogelgezwitscher reichen die musikalischen Welten, die sich bis Sonntagnacht zu einem durchgängigen Konzerterlebnis fügen, bei dem es etwas entspannter zugeht als bei der Klopperparty nebenan.

Gleichwohl ist auch hier eine gute körperliche Verfassung nötig, schließlich stellt sich bei der vierten Ausgabe von „The Long Now“ für den ausgeschlafenen Musikfreund wieder die Frage, wie man das alles überhaupt durchstehen soll. Für die Besucher stehen Feldbetten und Fleecedecken bereit – die nötige Ruhe zum Schlafen findet man in der beeindruckenden Kulisse der Industriekathedrale aber kaum. Und dann will man ja auch nichts verpassen. Ein besonderer Höhepunkt ist der Auftritt vom beliebten Langstrecken- Trio The Necks aus Australien, die sich am Samstag ab 21 Uhr mit dem libanesischen „A“-Trio durch ein ganzes Universum beflügelter Momente spielen. Bei der vierstündigen Session mit Klavier, Trompete, Gitarre, Schlagzeug und doppeltem Kontrabass fließt alles zu einem magischen Klang zusammen, der den langen Atem der Minimal Music mit dem spirituellen Brennstoff des Jazz zu einer völlig neuen Musik verbindet. Nicht aber in Tradition der kollektiven Improvisation, sondern als Zusammenspiel von brodelnden Sounds und Post-Rock-Referenzen, die sich immer wieder zu einem packenden Trance-Groove bündeln.

Das Publikum dämmert gut belullt vor sich hin

Anschließend entführen Elodie die Zuhörer mit butterweichen Spieluhrmelodien in einen wachen Traumzustand, der als Erinnerung an einen Schlafzyklus gedeutet werden könnte. Die Musik von Andrew Chalk und Timo van Luijk zerläuft stagnierend und doch stetig, erschafft ihre eigene Zeit, unablässig morphend, äußerst seltsam, aber auch sehr schön, wenn man die Ruhe findet, die stillen Arrangements der Wiegenlieder zu genießen. Dabei spielt das Duo vier Stunden lang mit einer fesselnden Traurigkeit, so intim und konzentriert, dass man fast vergisst, das zwischendurch die Uhr um eine Stunde vorgestellt wird.

Derweil dämmert das Publikum gut belullt vor sich hin. Während einige versuchen zu schlafen, lauschen andere andächtig, starren auf ihre Handys und bauen sich ihre eigenen kleinen Welten. Um 6 Uhr bringt die zauberhafte Japanerin Tomoko Sauvage mit Wasser gefüllte Porzellanschalen zum Klingen, ein Blubbern in Schönheit, dezent begleitet von den stampfenden Beats aus dem Tresor, die das Gebäude immer noch zum Vibrieren bringen, bevor irgendwann Ruhe einkehrt und am Sonntagnachmittag das großartige S.E.M.-Ensemble mit dem fünfstündigen Morton-Feldman-Klassiker „For Philip Guston“ die Sinne der Zuhörer in einen transzendentalen Zustand versenkt. Am Abend bilden der geisterhafte Knuspertechno von Huerco S. und das überwältigende Groove-Geknatter von Saxofon- Berserker Colin Stetson letzte Höhepunkte, bevor man das Kraftwerk mit einem Gefühl verlässt, das jeder kennt, der schon mal das komplette Wochenende im Strudel der Nacht abgesoffen ist. Und was könnte schöner sein als diese plötzliche Wachheit und Gegenwärtigkeit, die einen in diesem Moment ergreift und in die Realität zurückführt?

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