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Kultur: Findelkinder

Filmfestspiele Cannes: Neues von Jim Jarmusch und den Dardenne-Brüdern

Ein Brief, nicht besonders lang, getippt mit Schreibmaschine auf rosa Papier. Ob er sich erinnern könne an damals, an die Geschichte von vor 20 Jahren. Ein Sohn sei aus der Sache hervorgegangen, und der wolle ihn jetzt wohl kennen lernen. Komisch bloß: Unterschrift und Absender hat die einstige Geliebte vergessen. Don (Bill Murray) hat keine besondere Lust, der Sache nachzugehen. Aber da ist ein eifriger Nachbar mit Sherlock-Holmes- Komplex, der checkt die Verflossenen im Internet, bucht Flüge und Mietwagen – und schon sieht sich der etwas lebensmatt gewordene Junggeselle auf dem All-inclusive-Trip in die Vergangenheit.

Laura ist immer noch sehr attraktiv und hat ein süßes Luder von Tochter. Dora, früh gealterte Ehefrau eines ewig jungdynamischen Maklers, ist offenbar kinderlos geblieben. Carmen, geschiedene Mutter, vermarktet derzeit ihr eigentümliches Talent, Tiere sprechen zu hören. Und Penny, die reife Rockerbraut, hat offenbar einen Sohn, will aber partout nicht drüber reden. Wer also ist die Briefschreiberin? Stranger than paradise ist unser Leben hier auf Erden, und es bleibt nicht viel davon: Jim Jarmuschs melankomödiantisches Road Movie „Broken Flowers“ ist ein leiser Höhepunkt des an bemerkenswerten Filmen reichen Wettbewerbs dieses Festivals – und ein Fest für Schauspieler(innen!) noch dazu. Bill Murray geht mit seinem unwiderstehlichen „Lost-in-Translation“-Gesicht durch Begegnungen, wie sie ein Aki Kaurismäki nicht lakonischer hätte erfinden können, und Sharon Stone, Frances Conroy, Jessica Lange und Tilda Swinton sekundieren ihm: zärtliche, seelenverlorene, charmante, furios verbrauchte Echos einer Welt, in der Gegenwart nicht besonders viel, Vergangenheit aber gar nicht zählt. Eher die psychogrammatische Möglichkeitsform: Schon möglich, dass Don allein bleibt. Schon möglich, dass er seinen geträumten Sohn trifft. Schon möglich, dass sich ein sanftes Herz ein Spiel gemacht hat – nur um den sachte erstarrten Don wieder auf die Lebensreise zu schicken.

Einen Filmtraum weiter wird kein erwachsener Sohn gefunden, sondern ein neugeborener verkauft. Jean-Pierre und Luc Dardenne, die vor sechs Jahren mit „Rosetta“ die Goldene Palme holten, sind in „L’enfant“ erneut mit der Handkamera in der belgischen Provinz unterwegs – und wieder ist ihnen ein Film gelungen, der eine beliebige Jugendamtsakte in gesehen-gelebte Erfahrung verwandelt. Sonia (Déborah Francois) und Bruno (Jérémie Renier) sind eigentlich selber noch Kinder, als ihre kurze Elterngeschichte anfängt – und der Nachwuchsgangster Bruno den kleinen Jimmy mal eben an Kinderhändler verkauft. „Wir können doch ein neues machen“, sagt er der entsetzten Sonia und begreift nicht, dass er sie verliert. Nur dass er sie – diesen Ausweg lässt der kühl ausbelichtete, gewissermaßen neon-realistische Film – nicht auf immer verlieren muss: vorausgesetzt, er lernt zu begreifen, irgendwann.

Von verlorenen Vätern und Söhnen erzählt Cannes dieses Jahr immer wieder; vom wachsenden Unvermögen, Leben richtig weiterzugeben – Menetekel einer Zukunftslosigkeit, die den ganzen Globus umspannt. In „La batalla del cielo“ von Carlos Reygadas entführen die Bewohner der Megalopolis Mexico-City schon die Kinder von Bekannten, um Lösegeld zu erpressen; wenn diese Kinder dabei zufällig zu Tode kommen, gibt es unter der kalten Smogsonne der Stadt keinerlei Erlösung mehr. In Reygadas’ Film sind die fast stummen Täter ein altes Ehepaar, Kolosse der Gefühllosigkeit – und dass dem Mann noch (sehr expliziter) Sex mit der losen Tochter seines Chefs geschenkt wird, stürzt ihn bald noch tiefer in die Hölle. „La batalla del cielo“ ist ein strenger, faszinierender, kalter Film, der mit aller Gelassenheit alles wagt; die Jury unter Emir Kusturica dürfte er ebenso nachhaltig beschäftigen wie das Jarmusch-Meisterwerk. Unvereinbar, diese Filme? Alle Kunst ist schwerelos.

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