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Kultur: Flaneur in der Fremde

Von Sarajewo ins Chicagoer Exil: Aleksandar Hemons „Buch meiner Leben“.

Viele Seelen hat der Mensch: Er kann Kunstliebhaber und Schurke, Shakespeare-Experte und zugleich Weggenosse des Kriegsverbrechers Radovan Karadžic sein: „In den Nachrichten sah ich Professor Koljevic manchmal neben Karadžic stehen, der ständig irgendwelche Dinge bestritt. (…) Professor Koljevic wandte sich manchmal persönlich an die Journalisten, lachte, wenn nach Vergewaltigungscamps gefragt wurde, oder wies alle Anschuldigungen mit dem Argument zurück, dass solche Dinge leider in jedem ‚Bürgerkrieg‘ passierten.“

Koljevic war der Professor für Literatur, bei dem Aleksandar Hemon in den achtziger Jahren in Sarajevo studiert hatte, ein „unglaublich belesener“ Mann.

Wie aber fühlt man sich, wenn man feststellt, dass der einstige Lieblingslehrer und vermeintliche Humanist an der Planung eines ungeheuerlichen Verbrechens beteiligt war? Hemon beschreibt das in einem Kapitel von „Das Buch meiner Leben“ analytisch und sachlich, doch dahinter spiegeln sich Empörung und Enttäuschung: „Heute weiß ich, dass Koljevics Unmenschlichkeit mein Leben weit mehr geprägt hat als seine literarische Vision. Ich löschte diesen wertvollen, jugendlichen Teil von mir, der geglaubt hatte, dass man die Geschichte ignorieren und sich mit Hilfe der Kunst vor dem Bösen verstecken könnte.“

1992 verließ Hemon seine Geburtsstadt Sarajewo; er folgte einer Einladung zu einer Reise in die USA. Trotz der sich ankündigenden Kriegsgefahr konnte er nicht ahnen, dass er die Stadt erst 1997 als Emigrant wiedersehen würde. Der Schriftsteller war – Zufall, Schicksal – in Sicherheit, als im Frühjahr der serbische Angriff auf Bosnien und die Belagerung von Sarajewo begannen. So bestimmt die Erfahrung des Exils diese autobiografischen Erzählungen. Es sind Geschichten voller Weltgehalt und Lebenserfahrung, die in einem unprätentiösen, schlichten, dennoch eindringlichen Stil gehalten sind. Hier offenbart sich ein Ich mit seinen Verletzungen und lädt diskret zur Empathie ein – nicht nur mit den biografischen Verläufen, sondern auch mit bestimmten Ereignissen der Weltgeschichte. Wer erinnert sich heute noch daran, dass Sarajewo von 1992 bis 1996 ganze 1425 Tage belagert und von der Außenwelt abgeschnitten war? Es war im 20. Jahrhundert die längste Belagerung einer Stadt.

Die Texte sind von einer doppelten Vergewisserung grundiert: dem Anschreiben gegen das fremde und das eigene Vergessen. In der Emigration entstehe ein kompliziertes Verhältnis zu der Vergangenheit und zum früheren Ich, notiert Hemon: „Einwanderung ist eine ontologische Krise“, die zu einem Ringen um narrative Stabilität führt. Eigentlich bewegt sich der Schriftsteller lieber auf fiktionalem Terrain: „Ich schreibe erzählende Literatur, weil ich nicht anders kann, nicht-fiktionale Literatur schreibe ich nur unter Druck“, heißt es im Nachwort.

Seine Freude, sein Talent für das Spiel mit Fakten und Fiktionen hatte Hemon früh in sich entdeckt. In „Das Buch meiner Leben“ muss der berufsmäßige Lügner nun lernen, die Wahrheit zu sagen. Der 1964 geborene Schriftsteller nähert sich seinem autobiografischen Ich entwaffnend ehrlich, gepaart mit Skepsis und Selbstironie: „Wie viele junge Menschen, die in der Sicherheit des Sozialismus aufwuchsen, war ich ein Nihilist und wohnte bei den Eltern.“ Man erfährt von den wilden Jugendzeiten, von Depressionen und Angstzuständen. Schon früh zeichnet sich eine Büchersucht ab: Die Berghütte der Eltern in der Nähe von Sarajewo wird zum Zauberberg, zur Mönchsklause. Er ignoriert dabei, wie viele seiner Landsleute, die Kriegsgefahr und übt sich in „hedonistischer Verdrängung“ – bis zu seiner Emigration.

Viele Exilschriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht oder Thomas Mann haben jenen Zustand der Verlorenheit beschrieben, in einem fremden Land und einer fremden Sprache angekommen zu sein. Der ebenfalls exilierte Philosoph Ernst Bloch war der Meinung: „Im allgemeinen besteht die Regel, dass einer aus der eigenen Sprache desto schwerer in die andere fallen kann, je vertrauter er in der eigenen sich auskennt, je mehr er in ihr und durch sie erfahren hat.“

Im Kapitel „Leben eines Flaneurs“ schildert auch Hemon seine anfängliche Orientierungslosigkeit in Chicago, wo „Größe, Macht und das Streben nach Privatheit“ bestimmende Architekturelemente sind. Was für ein Kontrast zu der überschaubaren Heimatstadt! „Meine Entwurzelung war ebenso metaphysisch wie physisch. Aber ich konnte nicht nirgends leben. Ich wollte auch von Chicago bekommen, was Sarajevo mir gegeben hatte – eine Geographie der Seele.“

Allmählich erwacht der alte Flaneur in ihm wieder zum Leben, auch aus finanzieller Not. Im Frühsommer 1992 ist er als Werber für „Greenpeace“ in verschiedenen Quartieren Chicagos unterwegs, 1993 zieht er schließlich nach Edgewater, einen nördlichen Viertel Chicagos am Lake Michigan. Bewohner und Topografie werden Stück für Stück vertrauter: „Ich erkannte, dass der Prozess, eine amerikanische Stadt in einen Raum zu verwandeln, den man sein Eigen nennen konnte, von einem bestimmten Viertel ausgehen musste.“ Über lange Zeit bleibt jedoch das Gefühl „abgrundtiefer Heimatlosigkeit“ erhalten, das mit einer Schreibblockade einhergeht. In Edgewater entstehen dann erste englische Texte – heute ist Hemon in der englischen Sprache zu Hause und hat zuletzt mit seinem Roman „Lazarus“ einen großen Erfolg erzielt.

Die Skepsis gegenüber der eigenen Person hat sich als Charakterzug erhalten. Auf die Frage „Was sind Sie?“ ist er manchmal geneigt, „Schriftsteller" zu antworten: „Aber das passiert selten, denn es ist nicht nur prätentiös, sondern auch ungenau – als Schriftsteller empfinde ich mich nur, wenn ich schreibe. Ich sage also, ich sei kompliziert. Ich würde auch gern hinzufügen, dass ich im Grunde genommen ein Wirrwarr unbeantworteter Fragen bin, ein Haufen anderer. Ich könnte auch sagen, dass es für eine Antwort noch zu früh ist.“ Ursula Escherig

Aleksandar Hemon: Das Buch meiner

Leben. Aus dem

Amerikanischen von Matthias Fienbrok. Knaus Verlag,

München 2013.

224 Seiten, 19,99 €.

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