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Kultur: Flaschenpost

In letzter Zeit fällt mir das Briefeschreiben schwer.Ich merke, daß meine Botschaften an Familie oder Freunde diesen auf die Nerven gehen.

In letzter Zeit fällt mir das Briefeschreiben schwer.Ich merke, daß meine Botschaften an Familie oder Freunde diesen auf die Nerven gehen.Nun gehen Menschen andern Menschen oft genug allein aufgrund ihres Daseins im Universum auf die Nerven, das ist nichts Neues.Besonders genervt jedoch ist der Mensch von jenem anderen Subjekt, das sich anschickt, ihm einen Brief zu schreiben, der so etwas beinhaltet wie Belehrungen.Gerade Belehrungen erträgt das menschliche Wesen am wenigsten.Ich für meinen Teil habe im vergangenen Jahrzehnt eine Menge Briefe verfaßt, von denen ich nicht einmal vermutete, daß sie als Belehrungen aufgefaßt werden könnten.Gleichwohl, ich bekam kurze und oft ziemlich wütende Antworten.Daß ich doch von hier aus nichts predigen solle, sondern mich um meinen eigenen Kram zu kümmern hätte, wenn ich schon fortgegangen sei.Sie würden schon wissen, wie und wohin mit sich selbst.Ich stelle jedoch immer wieder fest, daß meine Leute aus dem Süden doch nicht so recht wissen, wohin mit sich selbst, so daß es mich ständig treibt, mit ihnen darüber zu diskutieren.Darüber, daß mein Volk nicht weiß, was es tun soll - ein häufiges Phänomen auch bei größeren und bedeutenderen Völkern.Denn ein Volk an sich ist eine sehr komplizierte Ansammlung, die, wenn sie feststellt, daß sie sich auf demselben Terrain versammelt hat, daß sie dieselbe Sprache spricht und daß sie ähnliche Bräuche hat, plötzlich zur Belastung für sich selbst wird.Natürlich kann sie sich das selbst nicht eingestehen.Als Erklärung für die Unklarheit, in die die Geschichte eines jeden Volkes geraten kann, muß eine vermutete Gefahr von außen herhalten.

Auch ich bin mittlerweile zu einer äußeren Gefahr für mein Volk geworden, nur deshalb, weil ich bisweilen jemandem einen vielleicht sogar ganz zärtlichen Brief schreibe, denn auch in zärtlichen Briefen vermuten die Menschen etwas Schlechtes.Daher mein Zögern in der letzten Zeit, bei jedem Briefwechsel.Denn ich bin nur ein alter Literaturoberst, der niemanden hat, dem er schreiben könnte.Auch wenn ich schreiben wollte, könnte ich nicht immer sicher sein, wo der Brief ankommen würde.Gerne würde ich meinem Freund, einem albanischen Dichter im Kosovo, eine Botschaft schreiben, ich habe jedoch gehört, daß sein Haus abgebrannt ist - er hat also keine Adresse mehr.Und mein anderer Freund, ein Dichter aus Belgrad, ist in der Zwischenzeit gestorben.Diesem toten Dichter würde ich heute vielleicht am liebsten schreiben, denn ich könnte von ihm aus erster Hand erfahren, warum er gestorben und warum er sterben mußte.In meiner ehemaligen Stadt sind viele meiner Freunde gestorben - während des Krieges, ohne dabei von einer Bombe oder Kugel getroffen worden zu sein.Sie starben an der enormen Niedergeschlagenheit, in die ihre Dichtung geraten war.Die Menschen starben dort an verschiedenen Krankheiten, aber vor allem am Gefühl der Trauer über die schlechte Herrschaft, die sie regierte.Und einige sind an bloßer Scham gestorben.Diesem Freund, der an der Scham über das eigene Volk starb, würde ich heute gerne das eine oder andere Wort schreiben.Um ihn zu trösten, denn auch ich selbst fühle mich schon seit langer Zeit tot, vor allem für das eigene Volk, das mich nicht mehr beachtet.Deshalb kann ich keiner bestimmten Person aus diesem Volk mehr schreiben.So lege ich diese meine allgemeine Botschaft in eine Flasche, auf daß sie irgendwann einmal von jemandem aus dem Meer unserer Geschichte herausgefischt werde.In dieser Botschaft gibt es nichts Besonderes, außer vielleicht der Kleinigkeit, daß ich die Adressen, an die ich sonst Briefe, die ohne Antwort blieben, schrieb, verloren habe.So bin ich gezwungen, auf eine allgemeine Art zu schreiben, jedem, den es interessiert.Um dieses Stück Papier in eine Flasche zu bekommen, mußte ich das Glasgefäß leeren.Mein Fläschchen ist jetzt leer, ich muß nur noch dieses Blatt Papier hinein bekommen und die Sendung versiegeln.Es bleibt dann dem guten Willen der Wellen überlassen; mögen es auch Radiowellen sein.Der serbische Schriftsteller Bora Cosic lebt in Berlin.Den Text übersetzte Alida Bremer

BORA COSIC

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