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Kultur: Flirt mit der kalten Sophie Marathon des Freien Theaters: das Berliner „100 Grad“-Festival

„Der Geiz wächst mit dem Gelde!“, steht auf dem T-Shirt der freundlichen Dame im Foyer des HAU.

„Der Geiz wächst mit dem Gelde!“, steht auf dem T-Shirt der freundlichen Dame im Foyer des HAU. Ein bedenkenswertes deutsches Sprichwort. Nicht wenige haben ihr aus Angst, zum Knauser zu verkümmern, bereits Ein-Euro-Münzen übereignet. Die werden durchlöchert und auf einen Stab gesteckt, eine hübsche Stange Geld. Bloß, was soll nun geschehen mit der Kollekte aus Gunhild Kreuzers Umverteilungsaktion? Sie zuckt mit den Schultern und lächelt. Kann das sein? Anderswo hungern die Künstler, und hier wird planlos Bares aufgespießt? Wenn man sich auf dem 100-Grad-Festival umschaut, fallen einem doch jede Menge prekäre Existenzen ins Auge. In der Freien Szene ist der Mangel nicht Ausnahme-, sondern Dauerzustand, da zählt jeder Euro, ob mit Loch oder ohne. Aber vielleicht wollte ja die ausgefuchste Frau Kreuzer genau darauf deuten!

Vergessen wir die leeren Taschen, volle kreative Kraft voraus: das Berliner Vier-Tage-Marathon-Festival des Freien Theaters feiert in diesem Jahr seinen zehnten Geburtstag. Das 100-Grad-Heft listet anlassgemäß ein paar beeindruckende Rekorde auf: 960 Festival-Stunden sind verstrichen. 1200 KünstlerInnengruppen aufgetreten. 547 322 Bier wurden getrunken (Schätzung). Zum Jubiläum haben sich das HAU und die Sophiensäle einen noch engeren Schulterschluss vorgenommen. In hoher Frequenz verkehren wieder die Shuttles zwischen Mitte und Kreuzberg. Und doch entgeht einem trotzdem vieles. Das liegt in der Natur der Veranstaltung mit ihrem permanenten Parallelprogramm in allen Sälen. Das 100-Grad-Festival ist immer auch eine Feier der uneingelösten Verheißungen.

Manchmal genügt es schon, sich die schönen Titel dieser theatralen Wundertüte voller No-Names und Newcomer vor Augen zu halten: „Episode aus dem Leben eines tagträumenden Revoluzzers“, „Das Geräusch von Möbeln, die platzen“, „Es ist keine Krise, sondern eine großartige Chance!“ Wer möchte sich da seine blühenden Projektionen durch die schnöde Bühnenrealität verderben? Oder ein anderer Fall: In den Sophiensälen verspricht der Jugendclub „Die kalten Sophies“ den Genuss von „einmaligen Szenen an unvermuteten Orten“ und lockt: "Oder möchten Sie auch mal dirigieren?" Das Problem ist nur, die Spieler zu finden; es sehen ja heute alle wie Performer aus. Groß ist die Versuchung, diese rätselhafte junge Frau im Treppenhaus anzusprechen: Guten Tag, sind Sie die kalte Sophie, darf ich Sie dirigieren?

Natürlich spielen Sex und Gewalt eine große Rolle in der Freien Szene. Aber auch hier gilt: nicht zu viel erwarten. Das Stück „Sexutopia 2113“ kündigt zwar den lange ersehnten Ausblick darauf an, wie unser Sex in 100 Jahren aussehen wird. Doch dann fahren nur zwei Performerinnen in engen Glitzerkostümen auf Rollschuhen umher und fabulieren über „Add-on Genitalien“ und „Orgasmus-Chips“. Und in der Aktion „Streetfight“ der Gruppe Lamegame können zwar zwei Zuschauergruppen Avatare aus Fleisch und Blut im Kampf aufeinander hetzen, die Namen wie Titanium-Klaus tragen. Aber leider nur in Slow-Motion, was der Triebabfuhr mittels Stellvertreter den K.o.-Kitzel raubt. Nebenbei ist „Streetfight“ eins der letzten Überbleibsel des in der Vergangenheit sehr verbreiteten Trends zum belebten Computerspiel.

Tendenzen auszumachen ist zwischen Punk-Trash-Puppenperformance, Marika-Rökk-Travestie und Studien über Mensch und Tier nicht so leicht. Was dieser 100-Grad-Jahrgang jedenfalls beweist: die biographisch-dokumentarischen Abende sind die stärksten. Keine neue Entwicklung, eine anhaltende. Im Stück „There is no Orchestra“ der Schelhas Co.Operation stellen drei Schwestern in erster Linie sich selbst auf die Bühne. Und erteilen erst mal den Reißerthemen wie Glaube, Kunst oder Politik die Absage. Auch Behinderung soll keine Rolle spielen. Bloß weil eine der drei das Down-Syndrom hat (und über tolles Performerinnen-Talent verfügt!). Allein die ambivalenzenreiche Liebeserklärung, die ihr gen Ende von den Schwestern gemacht wird, ist grandios. Etwa: „Ohne dich hätte ich keine kostenlose Fahrkarte“. „Ohne dich wüsste ich nicht, dass die Polizei auch Taxi spielt.“

Ebenfalls beeindruckend: das Stück „Wo ist meine Stimme?“ der Gruppe Satellit. Die Künstlerin Ana Zirner ist in den Iran gereist und hat ihre Altersgenossinnen und -genossen nach deren Leben befragt. Das gesammelte, von Paula Binder und Thomas Prazak vorgetragene Material ergibt ein oft beklemmendes, aber auch erhellendes Bild vom Alltag zwischen Tschador-Repression und Gender Studies an der Teheraner Universität.

Im Stück „Brazilification“ des Kollektivs Neue Dringlichkeit schließlich wird von einem Performer-Trio mit biographischen Verbindungen nach Südamerika die Arm-Reich-Schere im Boomland der Favelas ins Visier genommen. „Ehrlich gesagt: Arme sind mir unsympathisch“, endet einer. Eine trefflichere Provokation lässt sich in der Freien Szene kaum denken.

Noch am heutigen Sonntag. www.hebbel-am-ufer.de; www.sophiensaele.com

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