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Kultur: Flucht ohne Ende

Literatur ist kein wagnis mehr.Vielleicht ist sie deshalb heutzutage so belanglos.

Literatur ist kein wagnis mehr.Vielleicht ist sie deshalb heutzutage so belanglos.Wenn es Literatur gelingt, selbst "den Preußischen Landtag aus seinem Schlaf aufzuwecken", wie der längst vergessene Publizist Bernhard von Brentano süffisant schrieb, dann muß es sich um "gute Literatur" handeln.Das war 1929, als Peter Martin Lampels Zeitstück "Revolte im Erziehungshaus" von der Zensur bedroht war, bis die preußischen Abgeordneten sich bemüßigt fühlten, das Fürsorgewesen des Landes unter die Lupe zu nehmen.

Exakt siebzig Jahre später reißen die Literaten im preußischen Landtag keinen Abgeordneten mehr von der Bank.Die edlen Sitze waren besetzt von bildungswilligem Publikum, das im Rahmen eines Geschichtsforums der Bundeszentrale für Politische Bildung "Getrennte Vergangenheit - Gemeinsame Geschichte" Auskunft darüber erwartete, wie aus zwei verschiedenen Lebenswelten eine gemeinsame Kultur entstehen konnte.Um "gute Literatur" handelte es sich einst auch bei Ulrich Plenzdorfs Roman "Die neuen Leiden des jungen W.".Nur so, glaubt der Literat, heute Ostbeauftragter beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen, sei es zu erklären, daß junge Leute in Ost und West die Geschichte von Edgar Wibeau gleichermaßen verschlangen.Die Jugend, teilte der müde wirkende Plenzdorf weiterhin mit, hatte nämlich ähnliche Sorgen."Und der Unterschied zwischen den beiden Systemen war ohnehin gleich Null."

Wahrscheinlich hat auch der Lyriker Durs Grünbein Plenzdorfs Roman gelesen, obwohl er gerade mal zehn Jahre alt war, als der Text 1973 erstmals in Rostock erschien.Ob Edgar Wibeaus Probleme die seinen waren, ließ er offen, doch immerhin hat er sich nicht umgebracht, sondern ist nur "desertiert", innerlich.Seine "Fluchtbewegungen" seien existentiell, bekennt der Dresdner, und hätten mit politischen Grenzen wenig zu tun.Und das "deutsch-deutschen Familienproblem" interessiere ihn überhaupt nicht.Vergeblich bemühten sich die Moderatoren Rüdiger Thomas (Bundeszentrale) und Detlev Lücke (Freitag), die Runde in ein "deutsch-deutsches" Gespräch zu bringen.Sei es, weil das geschichtsträchtige Haus blockierte oder sich die Autoren schlicht nichts (mehr) zu sagen haben.Während Katja Lange-Müller lakonische Sätze von sich gab, die in der Erkenntnis gipfelten, daß vor jedem Systemwechsel zu bedenken sei, ob am Ende nicht etwas fehlt, spreizte sich Rolf Hochhuth als Rächer der Entrechteten und geißelte das deutsche Theatersubventionssystem.

Das Verhältnis der Ostliteraten zu ihrem Staat brachte Grünbein auf eine Formel: Möglichst unbehelligt leben und gleichzeitig austesten, wo der "Ernstfall" beginnt.In der neuen Republik ist der "Ernstfall" für die Literatur auf der Strecke geblieben, vielleicht steht deshalb der vom Publikum eingeforderte, "große" Wenderoman bis heute aus.Der könnte nur Kolportage sein, meinte der Lyriker, und damit hat Plenzdorf Erfahrung: 1500 Fernsehminuten in "reinen Ostbelangen" hat er absolviert.Auch 25 weitere Stunden würden die Sache nicht "ernst" werden lassen.

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