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Friedenssymbol. Die Zeder der libanesischen Flagge in weißer Taube.

© D. Grassmann/ifa

Flüchtlingskrise: Verschlossene Türen, offene Arme

Flucht, Migration und Kultur: Wir alle tragen Verantwortung für die Balance in der Welt. Es gibt keine Inseln des Wohlstands mehr, die nicht auf Kosten anderer entstanden sind.

Niemand verlässt sein Heimatland leichtfertig. Gewaltsame Konflikte, politische und ökologische Bedrohungen und wirtschaftliche Existenzängste bewegen Menschen zum Aufbruch und begleiten sie auf ihrer oft jahrelangen Flucht. Ängsten und Sorgen können sie aber auch im Zielland begegnen: Auch in Deutschland beobachten wir, wie in der Bevölkerung die Furcht vor dem Fremden wächst, je mehr Flüchtlinge ankommen. Unser Land steht vor logistischen, finanziellen und immensen sozialen Aufgaben. Unsere Gesellschaft wird sich verändern. Es gibt keine Inseln des Wohlstands mehr auf der Welt, die nicht auf Kosten anderer entstanden sind. Umweltzerstörung, politische Konflikte und prekäre Arbeitsverhältnisse sind auch auf den Lebensstil in den Industrienationen zurückzuführen. Wir haben eine ethische Verantwortung.

Innerhalb der Europäischen Union verzeichnete Deutschland laut Eurostat im ersten Halbjahr 2015 wie schon im Vorjahr die höchste Anzahl von Asylanträgen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge spricht von rund 331 000 Anträgen von Januar bis Oktober 2015. Das verlangt nach schnellen Reaktionen für eine umfassende Integration. Grundbedingung dafür ist ein Zugang zur deutschen Sprache, zu Bildung, zu Beschäftigung. Die Möglichkeit zu arbeiten ist ein Schlüssel für Eigenständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Mich hat beeindruckt, dass ein Friseur in Stuttgart einen syrischen Kollegen aufgenommen hat, der trotz aller sprachlichen Schwierigkeit eine dauerhafte berufliche Perspektive bekommen soll. Sprachkurse tragen dazu bei, die berufliche Perspektive von Flüchtlingen zu verbessern. Das ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) bietet in Stuttgart für medizinische Fachkräfte spezifische Sprachkurse an, um diese auf eine Berufstätigkeit in Deutschland vorzubereiten.

Mit dem Zugang zum Arbeitsmarkt allein ist es nicht getan. Auch das Recht auf kreativen (künstlerischen) Ausdruck und kulturelle Teilhabe (Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) ist ein Schlüssel zur Integration. Zu uns kommen Menschen mit einer eigenen Geschichte, Muttersprache und Kultur, auch mit Problemen und Ängsten. Wir müssen lernen, diese wahrzunehmen und ihre Individualität zu schätzen und Orte für kulturelle Begegnungen schaffen. Nur die aktive Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden ermöglicht Verständigung.

Wir sollten die identitästsstiftende Kraft von Religion respektieren, statt sie als Bedrohung zu sehen

Mit den Flüchtlingen kommen auch andere Glaubensrichtungen und religiöse Ausdrucksformen. Religion und ihre Ausübung sind ein elementarer Bestandteil von Identität. Als säkular geprägte Gesellschaft sollten wir diese identitätsstiftende Kraft von Religion respektieren, anstatt sie zur Bedrohung unseres Wertesystems zu stilisieren. Die Basis unserer Gesellschaft sind Pluralität, Toleranz, Freiheit und Demokratie. Wir sollten sie auch gegenüber Neuankömmlingen walten lassen und ihnen gleichzeitig die Trennung von Kirche und Staat sowie das Grundgesetz als Basis unseres Zusammenlebens vermitteln.

Auf globaler Ebene ist es höchste Zeit, die Ursachen für die massiven Fluchtbewegungen zu beseitigen. Überzeugt, dass Kulturarbeit Friedensarbeit ist, setzt sich das ifa weltweit für Kunstaustausch und Begegnung ein und gestaltet die Außenkulturpolitik Deutschlands mit. Seit mehr als zehn Jahren fördert es Nichtregierungsorganisationen und Projekte, die sich in Krisenregionen für Frieden engagieren. Denn Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Es bedarf der Auseinandersetzung mit den Ursachen und Akteuren – das ist unser Prinzip.

Wie konnte aus dem friedlichen Protest gegen Assad ein jahrelanger Krieg werden?

Besonders dramatisch ist die Situation in Syrien. Seit 2011 ist das Land im Krieg. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind 4,2 Millionen Syrer auf der Flucht. Mehr als ein Viertel der Menschen, die von Januar bis September 2015 einen Asylerstantrag in Deutschland gestellt haben, kommen aus Syrien. Das ifa unterstützt die Analyse des Konflikts durch Projektförderung und Forschung vor Ort. Die syrische Organisation Etana analysiert, wie aus dem zunächst friedlichen Protest gegen Präsident Baschar al Assad ein Jahre andauernder Krieg werden konnte. Etana und seine libanesische Partnerorganisation „UMAM Documentation and Research“ bauen mithilfe des ifa das arabischsprachige Online-Archiv „Memory at Work Syria“ auf. Die Dokumentation des Konflikts in Verbindung mit der Geschichte des syrischen Staates schafft eine Verbindung zur Gegenwart, um einen friedlichen politischen Übergang anzuregen.

Die Situation in Syrien hat Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. Wie die ifa-Expertin Leila Mousa umreißt, ist im Libanon laut UNHCR, „jeder Vierte der knapp sechs Millionen Einwohner seit 2014 ein Flüchtling. Darunter fallen etwa 1,2 Millionen Syrer 45 000 syrische Palästinenser. Inoffiziellen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der im Land verweilenden Syrer aktuell bei etwa 2 Millionen.“ Mousa erarbeitet für das ifa-Forschungsprogramm „Kultur und Außenpolitik" eine Studie, die Möglichkeiten von Kulturarbeit in Flüchtlingslagern am Beispiel des Libanon untersucht. Die Ergebnisse sollen aufzeigen, wie Kunst und Kultur Menschen in Flüchtlingslagern helfen können, Leid auszudrücken, die Sinnlosigkeit von Gewalt und Krieg zu bewältigen und konstruktive Haltungen für die Zukunft zu entwickeln.

Angesichts des Zustroms von Flüchtlingen aus nichteuropäischen Staaten rücken Binnenflüchtlinge innerhalb Europas medial in den Hintergrund. Allein aus dem Osten der Ukraine sind schätzungsweise bereits 1,5 Millionen Menschen in die übrigen Landesteile geflohen. In den Ländern der Östlichen Partnerschaft der EU (Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan) bildet das ifa Mitarbeiter staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen zu Fachkräften für die Integration von Binnenflüchtlingen aus. Sie erlernen Fähigkeiten zur Konfliktbearbeitung und werden in Medienkompetenz, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzungsmethoden geschult.

Die Wirkung dieser Arbeit ist nicht sofort messbar, aber sie legt eine Grundlage für eine neue globale Balance. Was die Balance in unserer eigenen Gesellschaft betrifft, sollten wir eines nicht vergessen: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährt in Artikel 16a ein subjektives Recht auf Asyl für politisch Verfolgte. Politisch Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren, ist für Politik und Gesellschaft verpflichtend. Aber nicht Rechtstreue allein fordert unser Engagement, sondern Humanität.

Ursula Seiler-Albring ist Präsidentin des Instituts für Auslandsbeziehungen. Aktuell ist in der Berliner ifa-Galerie eine Soundinstallation von Emeka Ogboh zu sehen (Linienstr. 139/140, bis 10. 1.) Bisher erschienen in unserer Reihe „Kultur und Flüchtlinge“ Texte von Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts (30. 9.), Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts (11. 10.), Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele (20. 10.) und Hortensia Völckers, Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes (25. 10.), Katharina Narbutovic, Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (4. 11.).

Ursula Seiler-Albring

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