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Kultur: Folter und Qual

Ein glänzendes Publikum traf sich in den kleinen edlen Hamburger Kammerspielen, einst Ida Ehres Haus, das Ulrich Tukur und Ulrich Waller nach etlichen mißglückten Nachfolgeversuchen profiliert haben als ein Theater, dessen jüdische Vergangenheit lebendig erhalten wird, dabei zeitgemäß und auch boulevardesk ergänzt.Diesmal wurde an einer Sensation gearbeitet: Britische Jungschockerin trifft deutsch/britisch/jüdischen Altschocker!

Ein glänzendes Publikum traf sich in den kleinen edlen Hamburger Kammerspielen, einst Ida Ehres Haus, das Ulrich Tukur und Ulrich Waller nach etlichen mißglückten Nachfolgeversuchen profiliert haben als ein Theater, dessen jüdische Vergangenheit lebendig erhalten wird, dabei zeitgemäß und auch boulevardesk ergänzt.Diesmal wurde an einer Sensation gearbeitet: Britische Jungschockerin trifft deutsch/britisch/jüdischen Altschocker! Der einstige Schauspielhausintendant Peter Zadek inszeniert wieder in Hamburg! Mit Bühnenbildner Peter Pabst und Lichtdesigner André Diot aus seiner Künstler-Entourage.Ebenso sensationell die Besetzung: Susanne Lothar, Zadeks unvergeßliche, wilde, selbstbewußte und ganz selbstverständlich nackte "Lulu" von 1988, nach langer Pause (Kinder, Film & Fernsehen) wieder auf der Bühne, zusammen mit ihrem nicht weniger berühmten Ehemann Ulrich Mühe, dazu Zadeks einstiger Jungstar "Andi", Uwe Bohm.Natürlich war dieses Staraufgebot nur möglich als Koproduktion mit den finanzkräftigen Wiener Festwochen und einer Hamburger Senatsspritze.Die Stimmung im Foyer war glänzend, das edle Publikum - Klaus von Dohnanyi hier, Jürgen Flimm da, gemischt mit nervösen Elternstars wie Ingrid Andrée und Hark Bohm - war plaudernd sich selbst Theater genug.

Es kam nichts weniger als ein Schock.Sarah Kanes Stück ist ein Alptraum, ein entsetzlicher, den Zadek realistisch, fast buchstabengetreu auf die Bühne übersetzte: Ein unentrinnbarer Ort des Grauens.Eine böse Macht, die Entsetzliches als körperlose Stimme aus dem Off befiehlt, Mißhandlung, Verstümmelungen, Folter.Ein Mann namens Tinker, Dealer oder Arzt, der all dies ausübt, grundlos.Eine kleine Gruppe von Menschen, die das hinnimmt, wehrlos.

Es treten auf: Graham, Fixer, die meiste Zeit als Untoter oder Phantasie seiner Schwester anwesend.Grace, die ihren Bruder bis zur Selbstaufgabe liebende Schwester.Robin, vermutlich ein jugendlicher Gewalttäter, etwas zurückgeblieben, äußerst lieb.Rod und Carl, ein Liebespaar.Ein junges naives Peepshowtanzgirl, in das sich Tinker verliebt.Man könnte sie alle als Liebende fassen: Graham liebte vermutlich Grace.Grace liebt Graham.Robin liebt Grace.Tinker liebt Grace und das Peepshowgirl.Das Peepshowgirl liebt Tinker.Carl liebt Rod.Rod liebt Carl.Es könnte eine Versuchsanordnung über Liebe sein - aber an diesem Ort? Ein beklemmender, grüngekachelter Operationssaal oder der Vorraum zu einer Leichenhalle, der sich mittels heruntergelassenen Ringen etwas undeutlich in eine Sporthalle verwandelt, deutlicher in eine Peepshow mit Stange und Münzkabine, mittels einem schnell gezogenen Halbvorhang in ein Außen, der Vorhang als mit Graffiti bemalte Mauer.

Die Handlung: unendlich deprimierend.Alle sterben oder werden verstümmelt, nur ausgerechnet Tinker und das Peepshowgirl enden mit einer Liebesszene.Graham, der Fixer, stirbt an einer Überdosis.Seine Schwester liebt ihn so verzehrend, daß sie erst seine Kleider anzieht, ihn als Person leibhaftig neben sich erlebt, mit ihm schläft, er sein will, am Ende zum Mann umoperiert, ihn verloren hat.Robin (eine Entdeckung, mal wieder aus der Berliner Ernst-Busch-Schule: der 22jährige Schauspielschüler August Diehl) trägt erst Grahams Kleider, dann das ganze Stück über die von Grace mit Anmut und kindlicher Würde.Es geht um Verschmelzung, Einswerden, es geht um die Suche nach der Identität.Robin verliebt sich in Grace, die sich ihm anfangs zuwendet, ihm Schreiben beibringen will, doch Grace ist inzwischen durch Medikamente oder Operationen entpersönlicht, empfindungslos, Robin erhängt sich.

Das Liebespaar draußen vor dem Vorhang: der dem skeptischen Rod (Knut Koch) seine unendliche Liebe schwörende Carl (Philipp Hochmair) wird sukzessive von Tinker verstümmelt: erst die Zunge, dann die Hände, dann die Füße abgeschnitten.Und am grausigen Ende bekommt Grace auch noch seinen Penis.

Im Schreckenslabor (der Autorin zufolge eine Universität!) wird unter Folter nach Liebe gefragt, nach Liebe und Sex, doch ein Muster für Strafe und Tod ist nicht erkennbar.Ulrich Mühe als Tinker (to tinker with: herumpfuschen), der allmächtige Böse, der einmal in seinem schwarzen Mantel von der Seite regelrecht auf die Bühne fliegt, fliegend sich auf sein ewiges Opfer Carl stürzt, wie das leibhaftige übermenschliche Böse ist eine Sensation.Und Susanne Lothar ist eine Sensation, wie sie, fast erschreckend mager geworden, natürlich wie einst als Lulu mit ihrer Nacktheit umgeht, wie sie spielt, die Liebe zum Bruder, die Selbstaufgabe, die Qual der Gefolterten.Wie sie plötzlich aussieht mit ihrer Mütze und den Männerkleidern des Bruders - eine schöne Jüdin.Und langsam kommt man dem Stück auf die Spur, denn diese jüdisch aussehende Grace wärmt sich die Hände an brennenden Büchern.Und obwohl anfangs nichts in dem Stück auf die Vernichtung der Juden in deutschen Konzentrationslagern hinweist, kann diese sinnlose und unerträgliche Gewalt, muß dieses Ausprobieren und Herumpfuschen an Menschen, das Umoperieren und Umerziehen, die Kasernierung und Unentrinnbarkeit etwas damit zu tun haben.

Erinnert nicht Tinker an den KZ-Arzt Mengele? Und, einmal aufmerksam, gibt es nicht wenige Andeutungen: Carl vielleicht ein deutscher Karl, sentimental und schwach und ein Verräter, die Bücherverbrennung, die Anordnung zur Verbrennung des sinnlos ermordeten Rod, die Willkürlichkeit der Gewalt, die ganze ausweglose Situation: böse Mächtige und ergebene Opfer, das blitzartige Umschlagen von Grausamkeit zu Zärtlichkeit bei Tinker.Zadek, der Meister des Realismus, vielleicht hätte er diesmal etwas mehr, etwas häufiger abstrahieren müssen.Heißt Grace nicht Gnade - wird am Ende Tinker, die Inkarnation des Täters, des grundlos Bösen, nicht erlöst durch die Liebe des Peepshowgirls (herrlich naiv gerundet und süß: Gabi Herz) und auch ihr Name ist - Grace!

Was haben wir gesehen: fünf von sieben Darstellern nackt, Kopulation, Folter, Mord, Liebe.Und was wirkte am stärksten? Nicht etwa das Abschneiden der Extremitäten, wenn Kunstblut und Plastikteile Echtheit vortäuschen müssen, sondern die Folter nur durch Stimmen, die Taten nicht sichtbar verübt, sondern "nur" erlitten von dem Opfer, dem Opfer Carl, dem Opfer Grace.Sondern die Quälszene, als Tinker den jungen Robin zwingt, die für Grace als Liebesbeweis gekauften oder gestohlenen Pralinen selbst zu essen.Als er sie erbricht, zwingt Tinker ihn in die Knie und, nicht genug, dazu, den Boden mit Kopf und Haaren aufzuwischen.Erniedrigung vorgeführt, daß der Atem stockt.Wie auf den schockierenden Fotografien von jüdischen Bürgern in Wien, die vor den Augen einer belustigen Menge auf den Knien die Straße aufwischen, mit einem Schild um den Hals: Jude.

Peter Zadek, zwar sein Leben lang voll Lust auf Provokation, hat bisher nur einmal ein ähnlich blutiges und grausames Stück inszeniert, 1985 "Die Herzogin von Malfi", geschrieben von John Webster vor etwa 350 Jahren.Blut und Wunden.Liebe und Verrat.Opfer und Täter.Triviales und Tiefe.Eine Mischung, wo sie sich begegnen - Zadek meets Kane auf einer Reise in die Abgründe der Menschlichkeit.

ULRIKE KAHLE

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