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Kollektive Neugierde. Die Londoner Band Black Country, New Road.

©  Ninja Tune

„For The First Time“ von Black Country, New Road: Impfstoff für die Ohren

Wahnwitzige Dreiecksbeziehung zwischen Klezmer, Jazz und Post Punk: Das grandiose Debütalbum „For The First Time“ von Black Country, New Road.

Bandnamen sind ein heikles Thema. Im Frühstadium zerbricht manch eine Formation im Zwist über die richtige Wahl. Und am Ende einer Karriere folgen oft jahrelange Rechtsstreits um die gemeinsam aufgebaute Marke. Als Isaac Wood auf der Suche nach einer passenden Idee für sein Projekt war, schmiss er kurzerhand den Zufallsgenerator auf Wikipedia an. Der spuckte den Namen einer Straße aus, die sich irgendwo in den englischen West Midlands entlangschlängelt – Black Country New Road. Prima, dachte sich Wood und ersann auch gleich eine passende Namensdeutung: Die Flucht von einem schlechten Ort. Eben das, was im besten Falle eine Band darstellen kann.

Schon diese Anekdote skizziert die grundsympathischen Züge der 2018 in London gegründeten Band Black Country, New Road: Die offensichtliche Abwesenheit von Eitelkeit, Konformitätsbedürfnis und Vermarktungslogik. Auf Bildern wirken die sieben Musiker:innen wie der Cast einer Neunziger-Jahre-Sitcom. Und dann spielen sie auch noch vermeintlich uncoole Instrumente wie Saxofon und Violine. Ihr kürzlich veröffentlichtes Debütalbum trägt den pragmatischen Titel „For The First Time“ (Ninja Tune). Viel Aufhebens müssen sie auch nicht machen. Es war eine der meisterwarteten Platten des Jahres. Das britische Onlinemagazin „The Quietus“ adelte sie vorab gar als „Beste Band der Welt“. Woher diese Euphorie?

Alles begann vor einem knappen Jahr mit den ersten Singles „Athen’s, France“ und „Sunglasses“, die sich mit einer irritierenden und faszinierenden Mischung aus Klezmer, Jazz und Post Punk seltsam quer zur vertrauten Poprezeption stellten. „New York Times“ und „Guardian“ überschlugen sich mit Lob, Festivals wie Primavera und Glastonbury fragten an, und im französischen Fernsehen saß die Band plötzlich zwischen Kim Gordon von Sonic Youth und Ed O’Brien von Radiohead.

Neugier und Experimentierfreude

Lediglich drei der Mitglieder genossen eine musikalische Ausbildung, der Rest erlernte die Instrumente selbst. Vermutlich erhielt sich gerade dadurch die bemerkenswerte Neugier und Experimentierfreude. Beim ersten Hören von „For The First Time“ drängt sich der Eindruck auf, die Band habe die Marxsche Sentenz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ verinnerlicht. Bloß ist hier, im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus, die erfolgreiche Realisierung des Prinzips zu bewundern. Alle Mitglieder des Septetts sind präsent, rücken mal instrumentell in den Vordergrund, um dann wieder wie selbstverständlich Platz zu machen. Formal sind es bloß sechs Songs, doch einige davon kratzen an der Zehn-Minuten-Grenze.

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Die diversen Aggregatszustände, die Black Country, New Road dabei durchlaufen, verleihen ihren Arrangements etwas Sinfonisches. Permanente Dynamik- und Taktwechsel erzeugen einen beklemmenden Strudel, der sich immer wieder jäh in fragile Melodien auflöst. Mit zitternder Stimme deklamiert Isaac Woods seine Texte, die wie Fieberträume wilde Assoziationen aneinanderreihen. In vieldeutigen Bildern und mit feiner Selbstironie erzählt er von der Weltwahrnehmung eines jungen Mannes in einer reizüberfluteten Umgebung. Besonders verstörend wirkt all das auf „Science Fair“, das mit unheilvoll dräuenden Störgeräuschen beginnt und vom beseelten Klang der Violine über ein Free-Jazz-Saxofon schließlich in aufgewühlter Synthie-See mündet.

Die Gerüchte über die ekstatischen Live-Shows der Band haben sich längst bis Berlin herumgesprochen, wo Black Country, New Road im November spielen wollen – sofern die Flucht vom schlechten Ort der Pandemie bis dahin gelungen ist. Im Bayrischen Rundfunk frotzelte ein Rezensent kürzlich über die aberwitzige Heilserwartung, mit der die Band wie ein „singender AstraZeneca-Impfstoff“ überzogen werde. Es ist wahr, „For The First Time“ ist ein äußerst vielversprechendes Debüt, aber Vorsicht: auch überzogener Erwartungsdruck hat Bands schon im Frühstadium zerbrechen lassen.

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