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Krise des Mittelstands in Israel. Die Brüder (David und Eitan Cunio) entführen ein Mädchen aus reichem Hause, um ihren überschuldeten Eltern aus der Misere zu helfen.

© Berlinale

Forum und Panorama: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond

Wie lebt es sich in einer Welt ohne Zukunft? Filme in Berlinale-Programm des Forums und des Panoramas erkunden das Beben und Nachbeben der Krise, überall in der Welt.

Es ist die Wut der Verzweiflung, die Yaki und Shaul antreibt. Die Brüder wollen nicht länger zusehen, wie die Eltern unter den erdrückenden Schulden leiden. Die Wohnung können sie bald nicht mehr halten, ohne Geld bist du nichts, sagt der Vater. Also entführen die Söhne ein Mädchen aus reichem Hause, Yaki ist schon bei der Armee, er hat eine Waffe, das hilft. Sie verstecken das Opfer im Luftschutzkeller, aber ihr Plan geht nicht auf. Am Sabbat geht die orthodoxe Familie des Mädchens nicht ans Telefon, niemand nimmt die Lösegeldforderung entgegen.

Israels Mittelschicht steckt in der Krise. Seit Sommer 2011 protestiert sie für mehr soziale Gerechtigkeit, gegen explodierende Mieten. Tom Shovals Debütfilm mit dem bitterbösen Titel „Youth“ (Panorama) ist einer Jugend ohne Zukunft gewidmet, in einem Land, das keinen Frieden kennt. Die Gewalt, das latente Aggressionspotenzial des Nahostkonflikts, steckt den Brüdern in den Knochen. Man kann es sehen, wenn sie das Mädchen drangsalieren oder sich prügeln, darüber, wie es weiter geht.

Auch in „The Daughter“, einem der griechischen Forums-Beiträge, wird ein Kind gekidnappt – Vergeltungsakt einer 14-Jährigen für die Arbeitslosigkeit des Vaters. Teenies als Racheengel, als Selbsthilfetäter: Schon 2012 hatten sich die Berlinale-Geschichten gehäuft, in denen die Jungen unter der Schuldenlast der Erwachsenen ächzen. Vom Beben und Nachbeben der Krise handeln dieses Jahr etliche Filme, nicht nur aus Europa. Von einer Welt ohne Zukunft, von Postkapitalismus, Postsozialismus, Postkolonialismus. Von überschwemmtem, verstrahltem, kriegszerstörtem Land. Von dem um seine Rente betrogenen Putzmann in einer mexikanischen Glühbirnenfabrik („Workers“, Panorama) oder den Arbeitern in einer maroden russischen Stahlfabrik („For Marx“, Forum). Von der Finsternis, die sich über dem Planeten ausbreitet, weil der Mensch sich die Erde untertan macht und sie dabei zerstört.

Der Titel von Swetlana Baskovas nachtrabenschwarzer Groteske „For Marx“ über den Turbokapitalismus in Russland ist von Sarkasmus geprägt. Just in jener Zeit, in der Karl Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“ neu ediert wird, entdecken die Arbeiter in Russland den Arbeitskampf neu. Sie lachen über die TV-Sendung mit den aussterbenden Bisons und über die Aussicht, vor lauter Ausbeutung wohl ebenfalls bald auszusterben. Wegen der miesen Bezahlung, des katastrophalen Arbeitsschutzes, der Luftverschmutzung und des Kantinenfraßes gründen sie eine unabhängige Gewerkschaft, zitieren Brecht, dozieren und rebellieren wie bei Godard, sorgen sich um die alten Eltern. Das Gespenst des Kommunismus geistert durch die Werkshallen, Streik liegt in der Luft. Aber die korrupten Oligarchen ersticken den Aufruhr mit kalten Morden, und der letzte, gutmütige Gewerkschaftsaktivist fällt lebendig ins Grab. Eine Farce, keine Tragödie, auch das frei nach Marx. Die Regisseurin nennt ihr Werk einen „neosowjetischen“ Film.

Landmassen stürzen ins Wasser: ein eindrückliches Sinnbild im indischen Insel-Film "Char"

Grenzgänger, Schmuggler, Heimatlose. Auf dem Grenzfluss zwischen Indien und Bangladesch, im Forums-Film "Char - No Man's Island".
Grenzgänger, Schmuggler, Heimatlose. Auf dem Grenzfluss zwischen Indien und Bangladesch, im Forums-Film "Char - No Man's Island".

© Berlinale

Die Fabrik ist eine düstere Hölle mit verrosteten Maschinen und stiebenden Funken, ein archaisch-apokalyptischer Ort. Die Arbeiter erscheinen als aus der Dunkelheit herausgefräste Figuren, Höhlenmenschen im Gegenlicht. Nachtgestalten, Nachtgeschichten – sie finden sich vielfach im Forums-Programm. Zum Beispiel in „Sieniawka“, einer Endzeit-Elegie des DFFB-Absolventen Marcin Malaszczak. Sieniawka heißt ein Dorf im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck. Anfangs folgt die Kamera einem Mann im weißen Astronautenanzug über die verwüstete Zone des Braunkohletagebaus, am Ende irrt sie durch eine vom Hochwasser zerstörte Ortschaft. Dazwischen beobachtet sie alte Psychiatriepatienten im Männerwohnheim, wunderliche Kerle, letzte Menschen. Sie spielen auf einem verstimmten Klavier, schlurfen durch düstere Flure, entdecken ein verfallenes Kino. Noch eine Höhle, ein Relikt aus vorvergangener Zeit.

Geborstene Häuser, Schuttberge, Endmoränen der Zivilisation: Malaszczas Bilder der Zerstörung erinnern in ihrer Morbidität an Tarkowskis poetische Ruinenästhetik. Auch im italienischen Dokumentar-Essay „Materia oscura“ ist die Erde unbewohnbar wie der Mond. Die Filmemacher Massimo d’Anolfi und Martina Parenti erkunden das größte militärische Testgebiet von Europa, eine Küstenregion auf Sardinien, in der seit Jahrzehnten Waffen ausprobiert werden. Eine Kriegszone mitten im Friedensgebiet, ein Horrorfilm in paradiesischer Landschaft, wieder streifen Männer in weißen Schutzanzügen durch die Gegend. Ziegenhirten fristen ihr Dasein zwischen Militärschrott, das Land ist verseucht. Requiem auf ein missgestaltetes Kälbchen: Der alte Bauer kann es nicht retten.

Die Welt leidet unter Materialermüdung. In „Char – No Man’s Island“ aus Indien kann man das besonders eindrücklich in Augenschein nehmen. Auch dies ein der Dunkelheit abgetrotzter Film, eine Geisterstunde im Niemandsland des 21. Jahrhunderts. In grünstichigen Nachtsicht-Aufnahmen erkennt man die Protagonisten meist nur schemenhaft, den Jungen Rubel und seine Familie. Sie schmuggeln Reis oder Hustensaft (wegen des Alkohols) über die indisch-bengalische Grenze, verstecken sich vor den nächtlichen Zollbooten, geraten in Grenzkontrollen mit Taschenlampe, hasten über Sandwege und sumpfige Felder. Noch eine Produktion übrigens, die sich zugleich als Spiel- und als Dokumentarfilm versteht.

Die hybride Form entspricht den Protagonisten, ephemeren, nomadischen Existenzen auf der Insel Char im Ganga-Grenzfluss. Hier versammeln sich die Vertriebenen, die ihre Heimat bei Überschwemmungen verloren haben und ihrer neuen Bretterverschläge ebenfalls nicht sicher sein können: Auch die nach einem Staudammbau aus dem Wasser emporgewachsene Insel bröckelt an ihren Ufern. Unentwegt stürzen Landmassen in die Fluten, den Menschen bricht buchstäblich der Boden unter den Füßen weg. Monsun? Klimawandel? Öko-Sünden? Die Katastrophe ist menschengemacht, eindrücklichere Sinnbilder dafür hat man im Kino selten gesehen.

Krisenopfer auch in Spanien: An der Peripherie von Barcelona steht Maribel (Maribel Martí) und wartet vergeblich auf Kundschaft. .
Krisenopfer auch in Spanien: An der Peripherie von Barcelona steht Maribel (Maribel Martí) und wartet vergeblich auf Kundschaft. .

© Berlinale

Noch ein Krisenland, Spanien. Isabel Coixet hat einen Science-Fiction gedreht, „Yesterday never ends“ spielt in der nahen Zukunft. Vor Festivalbeginn war er nicht zu sehen, die Schauspieler mussten Verschwiegenheitsklauseln unterzeichnen, aber schon die Ankündigung im Panorama-Programm ist bezeichnend: April 2017, ein Ex-Paar trifft sich in Neubauruinen, "mehr als sieben Millionen Menschen sind arbeitslos, über drei Millionen Häuser unbewohnt, weil ihre Besitzer an den Schulden ersticken", heißt es im Programm.

Verlorene Menschen in einem verlorenen Land porträtiert auch Neus Ballús spanischer Debütfilm "La Plaga" im Forum. Ein mazedonischer Hilfsarbeiter, ein Bauer, dem eine Ungezieferplage die Ernte vernichtet, eine philippinische Altenpflegerin, eine Prostituierte am Straßenrand, die keine Kundschaft mehr hat. Und die alte, bucklige Maria, die ins Altersheim muss, weil sie keine Luft mehr bekommt. Ihre Wege kreuzen sich in der Peripherie von Barcelona, in der Hitzewelle des spanischen Sommers. Sie alle strampeln sich ab, schon die ersten Bilder vom Mazedonier, der tapfer im Wrestlingstudio trainiert, zeigen ein schweißtriefendes, vor Anstrengung verzerrtes Gesicht. In der gleißenden Sonne macht die junge Regisseurin Spurenelemente der Solidarität aus, kleine, berührende Gesten der Empathie. Da ist sie wieder, die Wut der Verzweiflung. Aber auch der Mut, der aus ihr entwächst.

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