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Forum: Versiegelte Zeit

Bittere Skurrilitäten des Daseins, gezeigt mit größtmöglicher Leichtigkeit: Filme aus Tschechien und der Slowakei im FORUM der Berlinale.

Das tschechisch-slowakische Kino ist traditionell zuständig für die bitteren, schwer überlebbaren Skurrilitäten des Daseins, gezeigt mit größtmöglicher Leichtigkeit. Und so wähnt man sich fast schon im Hoheitsbereich von Jiri Menzel, als ein sehr betrunkener Streuner am frühesten Morgen vor dem Gemeindehaus des kleinen Ortes Zemplinske Hámre versucht, dem neuen Tag so aufrecht wie möglich entgegenzugehen. Und dann hört er eine Lautsprecher-Stimme: Solche wie er sind ein Schandfleck der Menschheit! Es wird ein schwarzer Tag für Zemplinske Hámre!

Es ist nicht etwa ein Radiosender, der durch die allgegenwärtigen Lautsprecher von Zemplinske Hámre tönt. Es ist der Bürgermeister selbst, der seine Home-Stereoanlage mit einem Mikrofon gekoppelt hat, seine missvergnügten Ansprachen an alle Bürger von Zemplinske Hámre grundsätzlich mit Glenn Millers „In the Mood“ eröffnet und gewöhnlich mit Aufrufen wie „Und morgen ist Mülltag!“ beendet. Und täglich grüßt der Bürgermeister. Aber in the mood ist in seinem Ort postsozialistischer Depression eigentlich nie jemand.

Das kann nur, meint man, ein Spielfilm sein, wunderbar tschechisch eben. Aber „Nesvatbov“ (Matchmaking Mayor) ist kein Spielfilm. Was Erika Hníková da in tschechisch-slowakischer Koproduktion gedreht hat, ist eine Dokumentation. Zemplinske Hámre und sein Bürgermeister existieren so real wie einst der Sozialismus. Von dessen Armee muss er irgendwie übriggeblieben sein, ein Ex-General, der nun statt eines Regimentes eben ein Dorf kommandiert und es von Sieg zu Sieg führen will. Der Fußballplatz und vieles andere ist schon in Ordnung gebracht. Vor allem aber müssen die Zemplinske Hámrerer sich vermehren.

Der General ist überzeugt, dass die Evolution uns für ein Familienleben geschaffen hat. Darum setzte er bemerkenswerte Belohnungen für alle Einwohner aus, die binnen eines Jahres heiraten. Aber das machte niemand. Nun zieht er andere Seiten auf. Erika Hníková führt uns in die Häuser der Dorfbewohner, ohne sie und ihre Inneneinrichtung an den Zuschauer zu verraten. Vielleicht hat die Sache ein wenig Überlänge, aber in Zemplinske Hámre vergeht die Zeit gewiss auch nicht schneller.

In „Dom“ (The House) der jungen Regisseurin Zuzana Liová befehligt ein Familienvater – gern per Handy – statt eines Ortes seine Töchter. Er besitzt den etwas finster gewordenen Stolz aus jener Zeit, da noch nicht jedes tschechische Mädchen sein Glück in Westeuropa, möglichst in London, machen wollte. Und was ist es da am Ende? Nur eine Osteuropäerin mehr. Aber nicht mit seinen Kindern! Er baut den Töchtern eigenhändig und mit verbissener Aufopferung Häuser. Denn wer ein Haus hat, geht nicht mehr fort. Zuzana Liovás Geschichte übers seelische Erwachsenwerden insbesondere von Vätern hat einen schönen, weiten, ruhigen, sicheren Atem.

Und noch einmal London als Lebensziel, nur fast dreißig Jahre früher. Das Gute an einem Festival ist nicht zuletzt, dass die Uhren plötzlich anders gehen oder gar nicht mehr. Wer in Zemplinske Hámre geübt hat, ist auch qualifiziert für „Osmdesat dopisu“ (Eighty Letters) von Václav Kadrnka. Er gehört ohne Zweifel in die Rubrik „ambitionierter Kunstfilm“. Wir sehen gewissermaßen in Echtzeit, wie ein vielleicht zwölfjähriger Junge morgens aufsteht, nach seiner Mutter ruft, sie nicht findet, aus der Wohnung stürzt und sie schließlich in einem fast schon losfahrenden Bus erblickt. Vornehmlich sehen wir auf Schuhe und Beine: Akteure der ganz alltäglichen, grauen Geschäftigkeit. Wozu da noch Gesichter, zumal im tschechischen Sozialismus der 80er Jahre?

Die Mutter hat einen grauen Behördentag vor sich und ganz allmählich ahnt man, was ihr Gesicht so angespannt-ausdruckslos macht: Sie will mit ihrem Sohn ausreisen. Ihr Mann ist schon in Großbritannien. Fast unmerklich, ganz sparsam kommen kurz aufflammende Lichter in den Film und in die Augen der Zurückgelassenen – vornehmlich, wenn etwas Englisches in ihren Alltag fällt oder ihr Blick auch nur am Kaffeelöffel hängen bleibt: „Spoon!“ Vielleicht wirkt manches in „Osmdesat dopisu“ eine Spur zu bemüht, aber das Schöne an diesem Genre der Ich-habe-alle-Zeit-der-Welt-Filme ist die fast unmerkliche Wandlung einer Atmosphäre, und als auch die Kamera am Ende nicht mehr mit niedergeschlagenen Augen blickt, sondern geradewegs aus dem Zugfenster in eine Landschaft, ist das schon fast eine Apotheose.

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