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Fotoausstellung über Schöneberg: Schau den Häusern ins Gesicht

Ute und Bernd Eickemeyer fotografieren seit fast fünfzig Jahren Berlin. Jetzt zeigt eine Ausstellung in Schöneberg ihre Bilder. Ein Kiezspaziergang.

Der Rohbau ist schon zwei Stockwerke hoch. Neben der Bautafel, die „moderne und individuelle Wohnungen“ verspricht, hat eine Bürgerinitiative ein eigenes Transparent aufgestellt – für den Erhalt von drei Linden auf dem Baugrund. Am Ende konnten die Anwohner die Fällung nicht verhindern. Ute und Bernd Eickemeyer begutachten diesen Schauplatz der Grabenkämpfe zwischen Bürger und Investor. Kommentieren wollen sie ihn nicht, aber dokumentieren, das schon. Der Crelle-Kiez in Schöneberg und seine Veränderung lässt sie auch nach dreißig Jahren nicht los.

Die beiden sind Fotografen des Wandels. So waren sie auch schon zur Stelle, bevor dieser Teil von Schöneberg Anfang der Achtziger offiziell zum Sanierungsgebiet erklärt wurde. Viele Häuser standen leer und waren in katastrophalem Zustand. Ute und Bernd Eickemeyer, geboren 1945 und 1942, beide in Schöneberg aufgewachsen, liefen durch die Straßen, porträtierten Bewohner, und auch die bröckelnden Gründerzeitfassaden wurden zu alternden Gesichtern, in denen sie lasen. Das Projekt zum Crelle-Kiez wuchs zur Langzeitbeobachtung – drei Jahre lang hat das Paar dort fotografiert. Mehr als dreißig Jahre später erinnert es sich noch genau an die Anfänge, wo es welche Aufnahme gemacht hat.

Die Eickemeyers stehen auf dem kleinen, idyllischen Platz, der sich durch die Kreuzung von Crelle- und Helmstraße ergibt. Kinder spielen Badminton, der Ball verfängt sich im üppig blühenden Baum. Touristen schauen sich suchend um. In den Cafés ringsum herrscht Mittagsfriedlichkeit. In der Hausnummer 17 haben sie einst den Abriss eines Hinterhofgebäudes festgehalten. An der Ecke Kolonnenstraße haben sie drei Jungs auf den Stufen eines Ladengeschäfts getroffen. „Die hockten da und haben zugelassen, dass wir sie fotografieren“, erinnert sich Ute Eickemeyer. Sie und ihr Mann waren im Viertel durch ihre fotografischen Streifzüge bereits bekannt. Ohne Scheu schauen die Kinder den Betrachter an.

Das Bild hängt nun in der großen Fotografieausstellung „Kurt am Wittenbergplatz“ im Haus am Kleistpark. Es ist eines von vielen Puzzlesteinchen, die die Kommunale Galerie anlässlich des 750. Jubiläums von Schöneberg zu einem großen Panorama zusammengetragen hat. Bekannte Fotografen dieser Stadt sind darunter, Waldemar Titzenthaler, Fritz Eschen, Karl-Ludwig Lange, Nelly Rau-Häring, Frank Silberbach oder André Kirchner. 160 Bilder von 1875 bis heute sowie 70 Minuten Filmmaterial hat Kuratorin Katharina Hausel ausgesucht, sie konnte dabei aus den Beständen des Landesarchivs und des Archivs der Museen Tempelhof-Schöneberg schöpfen. Der titelgebende Kurt ist ein kleiner Junge mit Segelohren, den ein anonymer Fotograf um die Jahrhundertwende aufgenommen hat. Die Ausstellung ist topografisch sortiert. Der Besucher wandert von Quartier zu Quartier – und so auch zum Crelle-Kiez, den die Eickemeyers beobachtet haben. Wer will, kann einen Stadtplan zu Hand nehmen.

Es geht ums Alltagsleben in Schöneberg. Wunderbare Einblicke ergeben sich da. Aufnahmen einer Molkerei , die noch bis 1982 Milch verkauft hat und in ihrem Hinterhof Blechkannen stapelte und kapitale Stallhasen hielt. Ikonen wie die eines Fritz Eschens, der in einer scheinbar banalen Alltagssituation Historisches bannt: Ein Kind steht mit dem Rücken zum Betrachter vor dem Trümmerberg Insulaner. Der Sattel seines Fahrrads geht dem Jungen bis zum Bauchnabel, viel zu groß ist es. Aber Räder sind damals, kurz nach dem Krieg als Fortbewegungsmittel kostbar. Erinnerungen ruft die Ausstellung bei älteren Besuchern wach, das zeigen die Einträge im Gästebuch. Da wird für die Reise in die Kindheit gedankt.

Ute und Bernd Eickemeyer: Dokumentaristen der alten Schule.

Die Schau erzählt die Geschichte Schönebergs nach, streift John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“-Rede am Rathaus und die Demonstrationen gegen den Schah-Besuch, zeigt einstige Vergnügungs- und Freizeittempel wie den Eispalast oder den Prälat, widmet sich den Hausbesetzern und der Schwulen- und Lesbenszene. Dabei macht sie deutlich, wie wichtig Stadtfotografie für die Identität einer Stadt ist. Es braucht Chronisten, die nicht nur die Architektur, sondern ein ganzes Lebensgefühl festhalten. Um das zu fördern, schreibt die Kommunale Galerie seit 1990 einen Preis für Stadtfotografie aus. Ute und Bernd Eickemeyer sind die ersten, die ausgezeichnet wurden.

Die beiden sind Dokumentaristen der alten Schule, sehen sich in der Tradition des Amerikaners Walker Evans. Sie arbeiten nur mit natürlichem Licht, bevorzugen eine mittlere Brennweite, sind weder nah dran noch weit weg am Geschehen. So behalten sie ihren neutralen Betrachterstandpunkt. Mal fragen sie Mieter, ob sie von deren Fenster im zweiten Stock aus eine Kreuzung fotografieren zu dürfen, mal interessieren sie sich nur für die verwitterten Strukturen einer Häuserwand, mal bitten sie die Porträtierten aus ihrem Leben zu erzählen, mal verfolgen sie eine Hausfrau auf ihrem Weg durch mehrere Straßen, wie sie ihre Einkäufe nach Hause trägt. Im Haus am Kleistpark hängt ein Foto aus dieser Verfolgungsserie. Die Eickemeyers haben genau in dem Moment abgedrückt, in dem der Frau eine andere Bewohnerin des Viertels entgegenkommt. Das Miteinander im Crelle-Kiez – eingefroren in einem Bild.

Wie viele Fotografien es bisher gemacht hat, kann das Künstlerduo nicht beziffern. Seine Arbeiten finden sich in den Sammlungen der Berlinischen Galerie, dem Archiv der Museen Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg oder in Privatbesitz. Mehrere Bildbände hat das Paar herausgebracht, alle selbst verlegt. „Diese Freiheit ist uns wichtig“, sagt Bernd Eickemeyer. Die Druckqualität der Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist fantastisch, der Blick auf die Stadt von West nach Ost subjektiv.

1967 haben sich die beiden kennengelernt. „Nach einer Woche haben wir eine Kamera gekauft“, sagt Ute Eickemeyer. Seitdem gehen sie gemeinsam mit ihrer Mittelformatkamera auf Tour. Die Herangehensweise: „Erst planen, dann sich einlassen“, sagt Ute Eickemeyer. Am Frühstückstisch bespricht das Paar, wo es sich lohnt, mal wieder mit dem Fotoapparat vorbeizuschauen. Nicht immer ist man sich einig. Denn Stadtfotografie bedeutet ja nicht nur, bald Vergangenes festzuhalten. Das Zukünftige ist ihr ebenfalls immanent. Wird das, was hier auf Film belichtet wurde, später einmal einen besonderen, historischen Wert haben? Oft entwickeln Bilder erst nach vielen Jahren ihre Aussagekraft. Deshalb erzählen die beiden Fotografen auch nicht von neuen Projekten. Wer weiß, was daraus einmal wird. Aber mal wieder im Crelle-Kiez vorbeischauen, das wollen sie schon. Immerhin nennen Ute und Bernd Eickemeyer das, was sie betreiben „lebensbegleitende fotografische Arbeit“ .

Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7, bis 25.5., Di-So 10-19 Uhr

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