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Zweisam. „Elisabeth und ich“, 1933.

© Courtesy Collection of Sarah Morthland, New York

Fotografie: Die stille Stadt des André Kertész

Er liebte die Stille und das Innehalten, er schaute einer vorbeisegelnden Wolke nach oder den Reifenspuren im Schnee. Ewiger Flaneur: der Fotograf André Kertész im Martin-Gropius-Bau.

Die Gabel. Umgekehrt abgelegt auf einem Tellerrand, wirft sie einen Schatten, der Stiel und Zinken genau wiedergibt. Unzählige Male ist dieses Foto reproduziert worden, seit es 1929 erstmals zu sehen war, auf der legendären Ausstellung „Film und Foto“ in Stuttgart. Die war auch in Berlin zu sehen, im Kunstgewerbemuseum, das heute Martin-Gropius-Bau heißt. Dorthin ist der Originalabzug jetzt zurückgekehrt, im Rahmen der überhaupt ersten, nahezu vollständig mit Originalabzügen bestückten Retrospektive des Fotografen André Kertész.

Seine berühmtesten Aufnahmen sind in der Wahlheimat Paris entstanden. Dorthin war er 1925 gekommen, als „Fotoreporter“, wie ihn die Präfektur registrierte. Geboren 1894 in Budapest, hat er nie eine entsprechende Ausbildung genossen; ursprünglich arbeitete er als Börsenmakler. „Ich bin ein ewiger Anfänger“, hat er später gesagt, „der die Welt immer wieder neu entdeckt.“

Anfänger, Entdecker – und Heimatloser, so ließen sich Kertész und mehr noch seine Sichtweise charakterisieren. Natürlich sind seine Aufnahmen, von denen es etliche zu – wenn auch spätem – Weltruhm gebracht haben, alles andere als amateurhaft. Er besaß ein „fotografisches Auge“, das zufällige Situationen unmittelbar in eine fotografische Schwarz-Weiß-Komposition zu übersetzen vermochte. Die Gabel gehört nicht dazu, sie ist erkennbar arrangiert und ausgeleuchtet. Doch was er auf den Straßen von Paris – im Grunde seine lebenslange Heimat – oder später, ab 1936, in New York sah, bedurfte jenes besonderen Blickes, der aus dem gesehenen Alltagsgeschehen ein einzelnes Motiv herauslösen und zum bleibenden Bild verdichten konnte.

49 Jahre lang lebte Kertész in New York, bis zum Tod 1985. John Szarkowski vom Museum of Modern Art entdeckte ihn quasi wieder und leitete in den sechziger Jahren seinen späten Ruhm ein. Zuvor fand Kertész zwischen 1947 und 1961 sein Auskommen für den Verlag Condé Nast, der etliche der besten Fotografen unter Vertrag hatte. Konnte Kertész zuvor zwar regelmäßig in Zeitschriften publizieren, vom deutschen „Uhu“ bis zum französischen Bilderblatt „Vu“, so blieb er doch zumeist ein Außenseiter. „Vu“ veröffentlichte rund 30 Reportagen, doch Mitte der dreißiger Jahre gingen die Aufträge merklich zurück, und Kertész suchte sein Heil in Übersee.

Der sprichwörtliche Optimismus der Amerikaner blieb ihm fremd. Man vergleiche nur seine New Yorker Bilder mit denjenigen von Andreas Feininger. Kertész blieb ein Pariser Flaneur, den es in die Neue Welt verschlagen hatte und der einer vorbeisegelnden Wolke nachschaute oder den Reifenspuren im Schnee. Ein melancholischer Flaneur, der die Stille liebte und das Innehalten.

„Ich dokumentiere nie, ich interpretiere immer mit meinen Bildern“, so Kertész. „Ich interpretiere, was ich in einem bestimmten Augenblick empfinde, nicht was ich sehe, sondern was ich empfinde.“ So sind die bereits 1926 entstandenen Aufnahmen aus der bescheidenen Pariser Atelierwohnung Piet Mondrians geradezu eine Studie des heroisch einsamen Künstlers. Die einzelne Topfblume, die sich dem Licht entgegenstreckt, kehrt 1939 als „Melancholische Tulpe“ in New York wieder, doch mit hängendem Kopf.

Die zahlreichen Reportagen und Illustrationen bilden den überraschendsten Part dieser Ausstellung, die am Pariser Fotografiemuseum Jeu de Paume erarbeitet und gezeigt wurde. In der überzeugend nach Motiven wie „Schatten“ oder „Verzerrungen“ geordneten Schau ist den Zeitschriften ein eigener Raum gewidmet. So erst wird das Gesamtwerk eines Fotografen verständlich, der nach eigenen Worten „eigentlich ein visuelles Tagebuch“ führte, zugleich aber auf die aktuelle Verwendbarkeit achten musste. André Kertész war gewissermaßen der professionellste Amateur der Fotografie.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis 11. September, Mi–Mo 10–20 Uhr. Katalog bei Hatje Cantz, 360 S. m. 544 Abb., geb., 25 €, im Buchhandel 49,80 €

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