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Kultur: Fotografie: Im Reich der Masken

Die Dame wirkt erschöpft. Vielleicht ist es Müdigkeit, vielleicht auch Trotz, der die Falten in ihrem Gesicht stärker hervortreten, ihre Züge noch ein wenig zerfurchter erscheinen lässt.

Die Dame wirkt erschöpft. Vielleicht ist es Müdigkeit, vielleicht auch Trotz, der die Falten in ihrem Gesicht stärker hervortreten, ihre Züge noch ein wenig zerfurchter erscheinen lässt. Mit 91 Jahren einen ganzen Tag lang fotografiert zu werden: eine Zumutung. Gisèle Freund war eine berühmte Portraitistin, aber ihr hat es nicht gefallen, selber portraitiert zu werden. Sie kannte die Intimität des Rollenspiels zwischen Fotografen und Fotografiertem nur allzu gut, deshalb hat sie sich gescheut, hinter der Kamera hervorzutreten und sich fremden Blicken preiszugeben. "Wir sehen uns immer spiegelverkehrt und erschaffen uns irreale Portraits, da wir vor den anderen eine Rolle spielen und uns schützen wollen", hat sie über ihre Arbeit gesagt. "Ich hatte ganz einfach Lust, während dieser Begegnungen jenseits der Maske, die wir in der Gesellschaft tragen, das individuelle Portrait zu finden."

Einen Menschen zu fotografieren, heißt auf die Suche zu gehen: nach der Wahrheit seines Gesichts. Der Berliner Fotograf Tom Fecht zeigt in seinem Portrait-Zyklus "en face" die vielen Gesichter Gisèle Freunds: lachend, ungeduldig, angespannt, gelangweilt, zornig. Seine Aufnahmen heißen "Warten", "Grande Dame", "Frontal", "Angst", "Hände", "Trinken", "Apres midi" oder - unsere Abbildung - "Siesta". Es sind Close Ups aus einem Zwischenreich. Immer sitzt die Fotografin vor einem tiefschwarz-samtigen Hintergrund, der sie fast zu verschlucken scheint, auf einigen Bildern trägt sie eine Maske, wie sie im venezianischen Karneval üblich ist, auch das kunstvolle aarangierte Anemonen-Stillleben verweist ins Surreale. "Ich war immer eine Träumerin", hat Freund erzählt. "Das hat mich gerettet, mein ganzes Leben lang." Tom Fecht hat Gisèle Freund am 18. März 1999 in Paris fotografiert. Es waren letzte Aufnahmen. Die Frau, die in Schöneberg geboren wurde, nach Paris und Südamerika emigrierte, James Joyce, Benjamin, Duchamp, Cocteau und Virginia Woolf fotografierte, starb im März 2000.

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