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© Erwin Wurm

Fotografie: Legenden der Linse

Die Berlinische Galerie läutet den 3. Europäischen Monat der Fotografie ein. Besucher der zahlreichen Museen und Ausstellungsräume können sich aber ruhig ein wenig Zeit lassen - der "Fotografie-Monat" dauert mindestens ein Vierteljahr.

Acht lange Stunden musste der Franzose Joseph Nicéphore Nièpce 1824 das früheste erhaltene Foto belichten, den Blick aus seinem Arbeitszimmer. Die Digitalknipse erledigt das heute in einer Tausendstelsekunde. Zeit ist relativ, vor allem in der Fotografie. Da wundert es nicht, dass der nun angebrochene 3. Europäische Monat der Fotografie mindestens ein Vierteljahr dauert. Einige der 139 Ausstellungen schließen sogar erst im Februar oder März.

Nach den ersten, erfolgreichen Jahrgängen 2004 und 2006 hat sich auch die Liste der beteiligten Kunstinstitutionen verlängert. Die Uferhallen tun am 8. November die Tore auf. Mit fünf Foto- Schauen avanciert das neue Kulturzentrum im Wedding gleich zu einem Hauptaustragungsort. Bereits eröffnet ist eine Ausstellungstrias in der Berlinischen Galerie: Mit sepiagetönten Kleinformaten aus den Jahren 1926 bis 1933 wird das Schaffen des Berliner Fotografen Hans Robertson (1883–1950) dem Vergessen entrissen. Als Jude emigrierte er nach Dänemark, zwischenzeitlich musste er nach Schweden fliehen und kehrte nicht an die Spree zurück.

Thomas Friedrich, Kurator des Monats der Fotografie, stieß in der Kopenhagener Königlichen Bibliothek auf den Nachlass des Lichtbildners. „Die Zahl der Negative geht ins Fünfstellige“, frohlockt er und kündigt schon jetzt eine umfassende Robertson-Retrospektive an. Der Appetizer mit gut 50 Künstlerporträts, Architektur und Industriefotos aus Berlin lässt eine ganz eigentümliche Bildsprache entdecken: unaufgeregt, einfühlsam, gekonnt komponiert. Max Schmeling betrachtet verträumt seinen schwellenden Bizeps, Elisabeth Bergner lässt die Augen blinken, berühmte Tänzerinnen wie Mary Wigman oder Gret Palucca malen Ausdrucksfiguren in die Luft. Überhaupt hatte Hans Robertson im Tanz sein fotografisches Thema gefunden. Sogar die Berliner Architekturen und Industrieareale besitzen eine verhaltene Bewegtheit.

Orte in Berlin, die Zweite: Entsprechend dem Motto des Fotomonats „Noch nie gesehen“ trumpft die Berlinische Galerie mit Ultra-Breitformaten auf, die zumindest der verstorbene Fotograf nie selbst betrachtet haben kann. Oder lebt er noch? Der Fall hat Krimi-Qualitäten. Wer zwischen 1949 und 1952 im Auftrag des Ostberliner Magistrats die Trümmerstadt „kartografiert“ hat, bleibt bis heute unklar. Vermutlich steckt ein Dokumentarist namens Emil Thiedemann hinter den Aufnahmen, die Arwed Messmer nun Bild für Bild eingescannt und am Computer zusammengesetzt hat.

Die so synthetisierten Schwarz-Weiß- Abzüge sind derart gefühlt riesig und detailscharf, dass der Ausstellungsbesucher die Stadtlandschaften eher erwandert denn betrachtet: vorbei etwa am verkohlten Hotel Adlon und an der eingerüsteten Ruine des Brandenburger Tors, bis rechts im Breitbild die Berliner Vertretung der berüchtigten IG Farben auftaucht. Zeitschichten. Dazwischen Geröll, Gerümpel und viel, viel leere Pflasterfläche. Es sind Bilder atemberaubender Nachkriegs-Unbehaustheit, und wenn vereinzelt Passanten durch diese Welt tappen, spürt man Ratlosigkeit. Wohin führt der Weg? Mit 29 Klapptafeln enthält der fantastische Katalog noch gut dreimal so viel Panoramen, auch er ein Muss für Spurensucher und Stadthistoriker. Doch sie alle werden dieses Kalt-Berlin mit der heutigen Kultstadt kaum in Einklang bringen können.

Bereits 2006 wurde im Monat der Fotografie mit „Mutations I“ ein Überblick über neue Tendenzen geboten. Zehn Gegenwartskünstler haben sich in der Berlinischen Galerie diesmal zu „Mutations II – Moving Stills“ eingefunden. Darin werden die Grenzen zwischen Fotografie und Film unscharf. Christoph Brech zeigt, dass auch die Malerei wie selbstverständlich im Medium wieder mitgedacht wird. Ein Sankt-Lorenz-Strom als Nebelmeer, Packeis, ein Eisbrecher und ein Containerschiff kommen in der Videogroßprojektion „Break“ vor. Die Kamera bleibt starr auf dem Fotostativ, alles fließt und zieht vorbei.

Der Israeli Ori Gersht zerschießt „niederländische Stilllebenmalerei“ mit Gewehrkugeln, gefilmt in Zehntausendstelsekunden. Aus dem stehenden Monitorbild wird erst ein Film, wenn die Vase auf dem Blumenstillleben in Splitter zerspringt und die Papageientulpenfetzen fliegen. Titel: „Big Bang“. So muss der Finanzcrash anno 1637 auf die Spekulanten gewirkt haben, das Ende des legendären Tulpenwahns: Lange her und weit, weit weg?

Jens Hinrichsen

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