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Zwei wie wir. „Max und Corrine“ aus der Serie „Blütezeit“ von 2012.

© Loredana Nemes

Fotografien von Loredana Nemes: Flügelschlag der Gier

Mit der Kamera zeigen, was die Realität dem Auge nicht preisgibt: Loredana Nemes’ faszinierende Fotoserien in der Berlinischen Galerie.

Angst verändert alles. Die Wirklichkeit verzerrt sich, die klare Wahrnehmung verschwimmt. „Angst atmet anders. Angst frisst Freiheit. Angst schwärzt die Schatten.“ Die Fotografin Loredana Nemes hat sie alle durchbuchstabiert, die Empfindungen der Angst.

Um sich selbst aus dem lähmend diffusen Zustand zu befreien, zerlegte sie das 5-Buchstaben-Wort sogar stupide in seine Bestandteile und variierte die Lautfolge mathematisch durch. Poetisches Sprechen entsteht aus diesem banalen Akt. Dazu zeigt Nemes großformatige Farbfotografien, die das private Gefühl ins Gesellschaftliche wenden. Brachiale LKW-Fronten hat die Künstlerin dermaßen unscharf fotografiert, dass sie abstrakten Gemälden Mark Rothkos gleichen. Schön sieht das aus. Zu schön für die Angst, die dahinter lauert.

Dass die motorisierten Kolosse nicht nur zum Warentransport, sondern auch als Terrorwaffe dienen, hat Loredana Nemes’ Blick auf sie verändert. Denn sie ist eine Konzeptkünstlerin, die in Bildern denkt. Ihre erste große Soloausstellung in der Berlinischen Galerie „Gier Angst Liebe“ versammelt nun sechs große Serien aus den letzten Jahren.

Animalische Kraft, Brutalität, Eleganz

Die 1972 im rumänischen Sibiu geborene Künstlerin lebt seit 2001 in Berlin. Hier stieß sie an der Jannowitzbrücke auf das Motiv ihrer Serie „Gier“. Nachtschwarzes Wasser kräuselt sich glänzend wie Öl. Plötzlich setzt wildes Flügelschlagen ein. Möwen stürzen sich kreischend auf ihre Beute, balgen sich, kämpfen, Gischt spritzt auf. Bevor man begreift, was geschehen ist, herrscht schon wieder Ruhe. Nur noch die Wasseroberfläche kringelt sich leicht.

Einen rasenden Moment animalischer Kraft, Brutalität und Eleganz hat Nemes mit einer 2000tel Sekunde Belichtungszeit zu geballter, wilder Schönheit eingefroren. Die extrem scharfen, riesengroßen Aufnahmen formen eine Choreografie aus Schwarz und Weiß. Sie streifen alle Flüchtigkeit ab und gerinnen zu Skulpturen: jeder Wassertropfen eine Perle, jede Schwanzfeder aus Porzellan.

Nemes studierte Literatur und Mathematik

Nemes sagt, ihr geht es darum, mit der Kamera zu zeigen, was die Realität unserem gewöhnlichen Auge nicht preisgibt. Eadweard Muybridge hatte in seinen legendären frühen Bewegungsfotografien den fließenden Galopp eines Pferdes naturwissenschaftlich nüchtern in Einzelmomente zerhackt. Nemes erforscht Gefühle: Zu der Möwenserie inspirierte sie die Erfahrung des Stillens, nachdem 2011 ihre Tochter zur Welt gekommen war.

Die Künstlerin studierte Deutsche Literatur und Mathematik, bevor sie sich autodidaktisch zur Fotografin erklärte. Diesem Metier unterzieht sie sich mit einer geradezu altmodischen handwerklichen Akribie. Kunstlicht verachtet sie und nutzt gern eine unhandliche Linhof-Großformatkamera, die älter ist als sie selbst. Das Sperrige, Umständliche der Technik kommt ihr gerade recht, um viel Zeit für die Annäherung ans Gegenüber zu finden. Für ihre Serie „beyond“ stellte sie ihr Stativ nachts vor arabischen Kaffeehäusern in Neukölln auf. Diese Räume sind eine reine Männerdomäne, die sich hinter Gardinen oder gemusterten Milchglasscheiben verschleiert.

Nemes blieb außen vor. Ihre Porträtaufnahmen zeigen die schemenhaft hinter den Scheiben sichtbaren Männergesichter. So entsteht ein Sinnbild für unüberwindbare Fremdheit: Die Distanzschicht des milchigen Glases mit seinen Mustern und Texturen ist gestochen scharf erfasst, die Menschen dahinter bleiben vage.

Porträts von Jugendlichen aus einer Kleinstadt

Henri Cartier-Bressons Straßenfotografie nennt die Künstlerin als Vorbild. Sie selbst arbeitet aber zunehmend mit den Mitteln der inszenierten Fotografie. Für ihre bekannteste Serie „Blütezeit“ bat sie Jugendliche in einer deutschen Kleinstadt, sich als Jungsbanden, Mädchenduos oder Geschwistercliquen für ein Gruppenporträt zu postieren. Dann aber lichtete sie jeden Einzelnen rasch nacheinander ab. So ergeben sich Tableaus, Triptychen oder Diptychen, die in Gesten, Blicken und Verschiebungen von Beziehungen erzählen.

Man meint diese Jugendlichen zu kennen. Das Gefühl des Jungseins, die Fragilität, Frechheit und Melancholie dieser Übergangsphase ist für einen Moment sehr präsent. Ob die Fotografie einen Menschen abbilden kann? Loredana Nemes ist sich bis heute nicht sicher. Aber sie schafft Bilder, die im Gedächtnis bleiben: stark und schön.

Berlinische Galerie, bis 15. Oktober, Mittwoch bis Montag 10 – 18 Uhr.

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