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Hoffnungsfroh. Kleinstadtpolen vor dem Einmarsch der Deutschen.

© RealFiction

Fotos vor dem Holocaust: Brüchige Erinnerungen

Der Dokumentarfilm „Die Hälfte der Stadt“ erzählt die Geschichte der Juden von Kozienice - und des Fotografen Chaim Berman.

Der Junge, neun oder zehn Jahre alt, trägt eine Schülermütze über abstehenden Ohren. Mit großen Augen scheint er aus einer achtzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit zu uns herüberzuschauen. Drei Jünglinge – so nannte man dieses Zwischenalter damals – in engen Anzügen sitzen rauchend um einen Tisch. Eine lachende Familie, ein Herr mit Hut und Menjoubärtchen. Magische Bilder. Sie zeigen Todgeweihte, die von ihrem Schicksal noch nichts ahnen. Gespenster der Geschichte. Auf späteren Aufnahmen lächeln die Menschen weiter, aber man spürt schon die Anstrengung. Junge Männer auf einer Treppe, alle tragen Armbinden mit dem Davidstern. Da war die Wehrmacht bereits einmarschiert, das Ghetto eingerichtet.

Fast alle Juden starben in Treblinka

Der Dokumentarfilm „Die Hälfte der Stadt“ des Warschauer Regisseurs Pawel Siczek erzählt die Geschichte der Juden von Kozienice. Das ostpolnische Städtchen liegt malerisch an der Weichsel, „auf 4000 Polen“, heißt es im Film, „kamen 6000 Juden“. Auf den Straßen wurde Polnisch, Jiddisch, Deutsch und Russisch gesprochen – heute hört man nur noch Polnisch. Fast alle jüdischen Einwohner sind von den deutschen Eroberern nach Treblinka deportiert und dort ermordet worden.

Übrig geblieben sind bloß ihre Bilder, fast 10 000 Porträtfotos auf Glasnegativen, die Krieg und Nachkrieg wie durch ein Wunder überstanden. Sie stammen von Chaim Berman, der das einzige Fotoatelier der Stadt betrieb. Nachdem Berman und seine Familie zur Zwangsarbeit interniert worden waren, rettete sein Vermieter die Negative aus dessen letztem Atelier, einem feuchten Keller, indem er sie auf seinen Dachboden holte.

In „Die Hälfte der Stadt“ sind unentwegt Menschen auf der Suche. Ein junges Fotografenpaar bemüht sich, Kozienice so zu fotografieren, wie es vor 1939 ausgesehen haben muss. Sie wollen die Stadt von Chaim Berman rekonstruieren, nehmen die Zwiebelturmkirche auf, die zartfarbig verputzten Wohnhäuser, ihre kleinen Obst- und Gemüsegärten. Aber immer fehlt irgendetwas, kein Foto kann die alten Wunden schließen. Ein Neffe von Chaim Berman ist aus New York nach Kozienice gekommen, um Spuren seiner Familie zu finden. „Erinnerst du dich noch an die Gesichter deiner Verwandten?“, wird er gefragt. „Vage“, antwortet er. „Ich habe mit meinem Cousin Ball gespielt, aber da war ich erst sieben.“

Thema des Films ist die Leere

Am stärksten ist der Film, der von einer Münchner Firma produziert wurde, wenn er Bermans Bilder zeigt und dabei ganz auf ihre Kraft und Rätselhaftigkeit vertraut. Einige Aufnahmen zeigen die Risse und Splitter des Glasnegativs, andere sind vom Schimmel fleckig geworden. Brüchige Erinnerungen. Nach der Besetzung der Stadt im September 1939 hat der Fotograf auch deutsche Soldaten porträtiert. Im Film hängen die Bilder der Männer mit dem Hakenkreuz an der Uniform neben den Fotos polnischer Soldaten, friedlich vereint an Wäscheleinen.

Pawel Siczek stand vor der Herausforderung, dass die meisten Juden von Kozienice – auch Chaim Berman, seine Frau und ihre beiden Söhne – nichts hinterlassen haben, nicht mal ein Grab. Dieses „schwarze Loch“ versucht der Regisseur, mit Tricksequenzen zu füllen. Sie stellen unbeholfen Stationen aus dem Leben der Familie Berman nach. Gebraucht hätte es die an Marc Chagalls traumverlorenen Bilderwelten orientierten Animationen nicht. Denn das Beunruhigende an diesem Film und an diesem Thema ist die Leere.

In Berlin in folgenden Kinos: Sputnik; OmU im Filmrauschpalast, Hackesche Höfe und Krokodil

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