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Container für Content. Installation auf dem Messegelände.

© Imago/Manfred Segerer

Frankfurter Buchmesse 2019: Hunger auf Wirklichkeit

Peter Handke, Deniz Yücel und das Ehepaar Münkler: Auf der Frankfurter Buchmesse wird geraunt und gepoltert.

Man kommt während dieser Buchmessentage an Peter Handke nicht vorbei. Schon in den Gängen auf dem Weg in die Ausstellungshallen blickt der frisch gekürte Literaturnobelpreisträger die Besucher der Frankfurter Messe an. Alle zwanzig, dreißig Meter stehen Mitarbeiterinnen des „Zeit“-Verlags und verteilen die neueste Ausgabe des Hamburger Wochenblatts mit Handke als Titelheld und der großen Zeile „Verehrt und verdammt“.

Kaum in den Hallen, erzählt einem ein Schriftsteller, dass es den Abend zuvor bei einem Verlagsessen die ganze Zeit um Handke gegangen sei. Am Stand des Hanser Verlags erinnert sich eine Kollegin, was Handke einmal für einen tollen Auftritt bei einer Petrarca-Preisverleihung gehabt habe.

Und man selbst vergegenwärtigt sich während dieses Gesprächs, wie stark sich Handke für Hermann Lenz eingesetzt, ja, dass er überhaupt viele andere Autoren in Deutschland bekannt gemacht, gefördert und übersetzt hat. Zum Beispiel Patrick Modiano, Walker Percy, Emmanuel Bove oder Georges-Arthur Goldschmidt, um nur einige wenige zu nennen.

Natürlich hat der Suhrkamp Verlag, in dem Handkes Bücher erscheinen, an seinem Stand in der Halle 4.1. neben den Neuerscheinungen einen Regalabschnitt für ihn reserviert. Ganz oben, unübersehbar, befindet sich die Handke-Bibliothek, darunter eine Reihe weißer Bände aus der 2018 veröffentlichten Handke-Gesamtausgabe und zahlreiche Taschenbuchausgaben. Ebenso versteht es sich, dass beim Suhrkamp-Kritikerempfang von ihm die Rede ist.

Da hieß es, man versuche einige falsche Aussagen über den Autor aus den USA oder Dänemark richtigzustellen, so schwer das auch sei. Und einen neuen Roman gäbe es ebenfalls im Frühjahr, „Das zweite Schwert – eine Maigeschichte“ lautet der Titel.

Aberkennung und Verweigerung

So viel Handke war lange nicht, vielleicht nie – weder während des Jugoslawien-Konflikts, noch 2006, als ihm der Heinrich-Heine-Preis aberkannt werden sollte, dem er sich schließlich selbst verweigerte und ihn nicht annahm. Trotz der Handke-Manie geht in Frankfurt alles seinen messetypischen Gang.

Auf den großen Lesebühnen der Öffentlich-Rechtlichen oder der Wochenmagazine wechseln sich die Autoren und Autorinnen im Halbstundentakt ab, um sich und ihre neuen Bücher vorzustellen. Die knapp zehn Prozent Umsatz, die das Sachbuch auf dem Buchmarkt in diesem Jahr bislang machte – ein deutlicher Zuwachs –, wie Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller bei der Eröffnung frohgemut verkündete, sind in den Hallen förmlich greif- und sichtbar.

Das Sachbuch ist das Buch der Stunde. Die Welt, die aus den Fugen geraten ist und uns plötzlich lauter Realitätsschocks beschert, wie das Sascha Lobo in seinem Buch darstellt, will entsprechend sortiert und erklärt werden. Manchmal müssen wiederum die Autoren erklären, was ihnen da in dieser mehr und mehr von Autokraten regierten Welt widerfahren ist.

Erfahrungen aus dem Gefängnis

So wie Deniz Yücel, der ein Jahr lang wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in einem türkischen Gefängnis saß und nun ein Buch unter dem Titel „Agentterrorist“ über seine Erfahrungen während dieser Zeit geschrieben hat. Yücel sitzt auf dem Blauen Sofa in der Halle 3.1., legt dar, wie es zu der Formulierung im „Kerker des Kalifen“ kam. Und er wundert sich über die Formulierung des Moderators, jetzt der „Posterboy der Freiheit“ zu sein („Ich versuche das zu ignorieren“).

Im Gespräch erzählt er, dass man sich genauso daran gewöhne, wieder in Freiheit zu sein wie an die Tage im Gefängnis. Das Schlimmste in der Haft sei die Angst gewesen, vergessen zu werden. Die vielen Solidaritätsbekundungen draußen aber hätten ihn beruhigt: „Das hier geht vorbei. Ich habe nur in Monaten gedacht.“ Yücel ist in seinem Buch durchaus privat. „Der Name meiner Frau fällt hier nach dem Namen, den ich hier nicht noch einmal nenne, am meisten“, sagt er und schildert, wie kurz er seine Frau erst kannte, bevor er in der Türkei inhaftiert wurde.

"Brandbeschleuniger der Liebe"

Weil sie im Gefängnis geheiratet haben, spricht der in schmissige Begriffe verliebte Moderator irrlichternd von Yücels Haftzeit als „Brandbeschleuniger der Liebe“. Den lässt das nur kurz stutzen, um cool zu erwidern: „An diesem Spruch musst du noch arbeiten.“ Vor zwanzig Jahren konnten wir uns noch gar nicht vorstellen, wie sehr die Freiheit mal in Gefahr sein könnte, hat Yücel noch gesagt. Das wiederholt so ähnlich ein paar Stunden später nebenan am „Spiegel“-Stand das Ehepaar Münkler – und dass „der Modus der Demokratie neu überdacht“ werden müsse, „die bürgerpartizipative Ordnung in einer Krise“ stecke.

Bildung gegen den Abstieg

Marina und Herfried Münkler wollen nach vorn denken. Sie haben unter dem Titel „Abschied vom Abstieg“ eine „Agenda für Deutschland“ geschrieben, um sich von den „Niedergangsnarrativen“ zu verabschieden, die sich bereits durch das Aussprechen vom Abstieg erfüllen würden. Um Bildung, Demokratie und Europa geht es den beiden in ihrem Buch, da werden sie konkret. Aber es reicht die Zeit auf den Podien nie, um so etwas erschöpfend zu besprechen. Dafür sind schließlich die Bücher da, die gelesen werden sollen. Auf der Messe aber wird geredet. Hier wird das freie Wort, die Meinungs- und Redefreiheit immer wieder beschworen. U

nd hier ist jedem klar, dass die Debatte um Handke auch nach der Messe weitergeht. Bis spätestens zum 10. Dezember, wenn ihm in Stockholm der Literaturnobelpreis feierlich überreicht und er sich mit einer Rede dafür bedanken wird. Passend zitiert ihn der Suhrkamp Verlag auf dem großen Handke-Foto an seinem Stand: „Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist.“

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