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Frankfurter Buchmesse: Warum schreiben die Polen gute Gedichte, Herr Milosz?

Bei Lesungen tragen Sie manchmal Gedichte von sich vor, die 50 Jahre alt sind. Kennen Sie den Mann noch, der sie geschrieben hat?

Bei Lesungen tragen Sie manchmal Gedichte von sich vor, die 50 Jahre alt sind. Kennen Sie den Mann noch, der sie geschrieben hat?

Nicht wirklich. (Lacht)Während eines Lebens geht man durch mehrere Stufen, und vielleicht sind einige dieser Gedichte tatsächlich überwunden.

Hat das mit dem Älterwerden zu tun oder mit den Stationen Ihres Lebens: Wilna, Warschau, Paris, Berkeley, Krakau?

Ich habe eine erstaunliche Kontinuität in meinem Leben - trotz aller Diskontinuitäten. Als junger Dichter war ich ein so genannter Katastrophist - was nicht nur mit der Ahnung des Zweiten Weltkriegs zu tun hatte. Zugleich steckt in meinen frühen Gedichten eine große Ekstase angesichts der Welt. Es kommt mir vor, als wäre das Gefühl der Katastrophe verschwunden und das der Ekstase geblieben.

Aber die frühen Jahre haben Sie geprägt.

Meine Warschauer Jahre waren entscheidend. Ich habe französische Einflüsse aufgenommen - mein Cousin Oscar Milosz war ein französischer Dichter. Während des Krieges las ich dann englische Lyrik. Um 1943 erkannte ich, wie sehr ich romantischen und nachromantischen Mustern folgte und dass ich mich davon befreien musste. So schrieb ich zwei an William Blake angelehnte Gedichtzyklen: kurze Gedichte wie für Kinder, die Wiedererschaffung einer unschuldigen Welt.

In ihren Gedichten spürt man immer die Spannung zwischen den historischen Ereignissen und der Sehnsucht nach Idylle. Heute noch fühlen sie sich stark hingezogen zur Zeit Ihrer Kindheit.

Ja, als Selbsttherapie.

Haben Sie mit der Kindheit, wie Sie sie in Ihrem autobiografischen Roman "Tal der Issa" beschreiben, ein Paradies verloren?

Nein. Natürlich ist das Element des Paradieses bei mir sehr stark. Es ist ein sakramentales, heiliges Element. Dostojewski verwendet den Begriff des Sakraments für gewisse Kindheitsmomente der Gebrüder Karamasow. Das "Tal der Issa" habe ich in Frankreich geschrieben, mit bewusster Distanz. Simone Veil sagte: "Abstand ist die Quelle der Schönheit."

Wie haben Sie bei Ihren Besuchen das heutige Litauen erlebt?

Ich habe 52 Jahre gebraucht, um an meinen litauischen Geburtsort zurückzukehren. Ganze Dörfer oder die Obstgärten um unser Haus waren verschwunden. Die Bevölkerung war nach Sibirien deportiert worden, die Dörfer zerstört. Aber manches ist geblieben, etwa eine alte Scheune, in der heute die Milosz Foundation untergebracht ist, ein Zentrum für internationale Konferenzen.

Sie leben eine Hälfte des Jahres in Krakau, die andere in Berkeley. Ist diese Pendelei nicht anstrengend?

Zwar betrachtet man mich manchmal als amerikanischen Dichter, aber ich fühle mich eher in Krakau zu Hause. Ich bin in Wilna zur Schule und zur Universität gegangen, doch Wilna ist heute eine andere Stadt. Die polnische Intelligenz ist emigriert. Die Juden wurden umgebracht. Das heutige Krakau ähnelt dem Wilna von damals am meisten. Es ist die einzige polnische Stadt, in der es einen liberalen Katholizismus gibt.

Warum sind Sie überhaupt nach Amerika gegangen und nicht in Frankreich geblieben?

In Frankreich? Niemals. Seit die französischen Intellektuellen sich in den fünfziger Jahren in Herrn Stalin verliebt haben, ziehe ich es vor, Frankreich nicht zu betreten. Sie hielten mich für verrückt, weil ich das sozialistische Vaterland verließ, in dem es ein System gab, das Schriftsteller schützte und unterstützte. Abgesehen von meinem Freund Albert Camus haben mich die Schriftsteller in meiner Pariser Zeit ausgestoßen wie einen Leprakanken.

Wie würden Sie einem Buchmessengast das Literaturland Polen beschreiben?

Polen hat gute Gedichte, keine besonders guten Romane und hochinteressante Tagebuchliteratur. Was die Lyrik berifft, gibt es so etwas wie eine polnische Dichterschule: Autoren wie Tadeusz Rozewicz, Zbigniew Herbert, Wyslawa Szymborska, Adam Zagajewski, Czeslaw Milosz. Sie alle versuchen, mit historischer Erfahrung fertig zu werden, beschreiben aber nicht notwendig Ereignisse. Dazu kommt eine gewisse Opposition gegenüber Westeuropa.

Gelesen werden in Deutschland vor allem Erzähler wie Hanna Krall, Stefan Chwin, Pawel Huelle oder der kürzlich verstorbenen Andrzej Szczypiorski.

Stefan Chwins "Tod in Danzig" hatte großen Erfolg in Polen. Chwin hat gerade einen neuen Roman veröffentlicht, "Die Gouvernante", der das Warschau des 19. Jahrhunderts rekonstruiert. Es gibt immer wieder den Versuch, Zeitschichten zu durchqueren. Dasselbe gilt für die Autoren, die sich mit polnisch-jüdischen Beziehungen beschäftigen. Und vergessen sie nicht Witold Gombrowicz, Bruno Schulz und Stanislaw Witkiewicz ...

die großen Drei der Moderne. Gibt es auch eine Postmoderne?

Bevor wir über die Postmoderne sprechen, müssen wir erst den Begriff Moderne definieren. Ein großer Teil der zeitgenössiscen Literatur begibt sich zu tief in die subjektive Welt eines Individuums. Ich bin ein großer Gegner des Subjektivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Goethe sagte, dass wirklich kreative Epochen objektiv seien und Epochen des Niedergangs subjektiv. Allerdings schrieb er den "Werther".

Wenn Sie das liberale Polen betrachten: Welche Herausforderung stellt die Annäherung an Westeuropa dar?

Die Herausforderung an die nationale Identität ist nicht anders als in Deutschland oder Frankreich. Es gibt das Phänomen der Globalisierung und den Einfluss der Massenmedien in dem Maß, in dem die Universalsprache Englisch Einzug hält ...

die Sprache, in der wir uns unterhalten.

Früher gab es eine internationale Sprache namens Latein, unter deren Einfluss die polnische Sprache erschaffen wurde. Polnische Dichter waren zweisprachig. Dann kam der Einfluss Frankreichs. Und nach 1938 brach das englische Zeitalter an.

Sie haben vom liberalen polnischen Katholizismus gesprochen. Was verbinden Sie damit?

Ich halte mich für einen Katholiken. Und Papst Karol Wojtyla fasziniert mich. Leider sieht man in ihm meist nur seine ablehnende Haltung gegenüber Empfängnisverhütung und Abtreibung. Aber das ist nur ein Fragment seiner Lehre, das ich ihm verzeihe. Sein Hauptgedanke ist der vorhersehbare Lauf der Geschichte. Was Not tut, ist ein ernsthaftes Nachdenken über religiöse Probleme. Polen ist ein Land des Klerus. Ein seltsames Land: Man betet und geht zur Kirche. Doch wenn Wahlen anstehen, wirft man sich den Ex-Kommunisten in die Arme.

Sie unterscheiden zwischen der Linie des Papstes, der Linie des Klerus und einem liberalen Katholizismus.

Die drei Strömungen bewegen sich nicht aufeinander zu. Sie existieren nebeneinander. Es gibt auch noch Überreste eines ultrakonservativen, antisemitischen Katholizismus, wie ihn Pfarrer Rydzyk von Radio Marija vertritt. Glücklicherweise findet er nur begrenzten Zulauf.

Der Einfluss von Religion schwindet in ganz Europa. Macht Polen eine Ausnahme?

Die Frage ist, ob man sich dagegen wehren kann. Ich hänge nicht unbedingt an konservativen Meinungen. Und zweifellos gibt es unter dem Einfluss von Wissenschaft und Technik eine Erosion religiöser Vorstellungskraft. Zugleich sehen wir, wie wahre Massen die Pilgerreisen des Papstes begleiten, auch junge Leute. Das ist alles sehr rätselhaft.

Aber als Schriftsteller verteidigen Sie die Rolle des Katholizismus.

Jeder Schriftsteller ist in einen Kampf gegen die Dekadenz verwickelt. Und als Dichter versuche ich - heute bewusster als früher -, dem Trend zum Nihilismus zu widerstehen.

Zumindest den Kampf gegen den Kommunismus haben Sie gewonnen. Ist die Dekadenz Ihr neuer Feind?

Ich habe nicht nur gegen den Totalitarismus gekämpft, sondern auch gegen den Nationalismus. Und der Nationalismus ist nicht tot. Ich denke dabei nicht einmal an Extreme wie in Bosnien. Auch in Polen besteht da ständig eine Gefahr. Ich muss gestehen, dass ich mich in gewisser Weise dafür verantwortlich fühle, was in Jugoslawien geschehen ist. Denn in den achtziger Jahren war mein Buch "Verführtes Denken" in Jugoslawien ein Beststeller. Die serbischen Intellektuellen in Belgrad wollten den Marxismus loswerden, und mein Buch hat ihnen dabei geholfen. Genau dieselben Leute sind jetzt das Rückgrat des serbischen Nationalismus und verantwortlich für die Grausamkeiten, die Serben an Moslems und Kroaten begingen.

Bei Lesungen tragen Sie manchmal Gedichte von sich

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