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Kultur: Frankreich: Die sechste Republik

Zwischen Frankreich und Deutschland herrscht Konsens: Man findet einander langweilig. Die gegenseitigen kulturellen Einflüsse sind erloschen; hier wie dort blickt man gebannt nach Amerika und mit gequältem Pflichtbewusstsein nach Brüssel.

Zwischen Frankreich und Deutschland herrscht Konsens: Man findet einander langweilig. Die gegenseitigen kulturellen Einflüsse sind erloschen; hier wie dort blickt man gebannt nach Amerika und mit gequältem Pflichtbewusstsein nach Brüssel. Der Französisch-Unterricht in Deutschland und der Deutsch-Unterricht in Frankreich verlieren an Boden - statt dessen wird immer früher englisch gelernt. Die deutsch-französische Freundschaft, einst die europäische Lokomotive, verrostet im Museum für Zeitgeschichte. Das Besucherinteresse ist mäßig. In Deutschland trinkt man chilenischen Wein. Und in Frankreich isst man polnische Heringe.

Lustlos war die deutsche Berichterstattung über die französischen Präsidentschaftswahlen, die heute in ihre erste Runde gehen. In den sporadischen Depeschen wurde zumeist ein Klischee wiederholt, das auch in Frankreich selbst kursierte: Lionel Jospin und Jacques Chirac seien Jacke wie Hose. Notdürftig kaschierten sie die genau gleichen Wahlversprechen, die sie ohnehin nicht halten, hinter den verblassenden Farben ihrer Parteitraditionen. Allenfalls hebt man Chiracs berserkerhaften Charme und Jospins protestantische Tugend hervor und verweist auf ein paar Originale wie die trotzkistische Kandidatin Arlette Laguiller, die dem pathologischen Dogmatismus ihrer Partei Lutte ouvrière ein freundliches Gesicht verleiht.

Dass sie immerhin auf zehn Prozent veranschlagt wird, so wie der rechtsradikale Jean-Marie Le Pen auch, macht hier zu Lande niemandem Sorge - letztlich haben sie ja doch keine Chance. Immerhin aber hätte man hinter solchen Zahlen das eigentliche politische Drama dieser Wahlen erkennen können. Es ist ein Drama, das Frankreich spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung ausficht, siegreich übrigens. Der denkfaulen Häme, mit der hier immer wieder der Begriff der Grande nation, der für einen verlorenen Anspruch stehen soll, herbeizitiert wird, verbirgt es sich. Denn wer dieses Versatzstück einsetzt, erliegt häufig genug eben der Fiktion, die dahinter steht - ein Erfolg französischer Außendarstellung. So verbreiteten gerade die Spötter das Märchen von der "einen und unteilbaren Republik" und verkennen die Brüchigkeit, die es bannen will.

Es stimmt ja: Von außen, aber auch in gewissen Selbstbildern erscheint Frankreich als ein Gebilde von geradezu schmerzhaft sinnfälliger Homogenität. Allein die Form des Territoriums, dieses angenehm ausgewogene Sechseck, leistet diesem Missverständnis Vorschub. Wie eine Spinne im Netz positioniert sich die Hauptstadt in der Mitte und in leicht erhöhter Position. Wie ein Gitternetz ist das Muster von 95 Départements über das Territorium geworfen. Die Macht- und Verkehrsadern verästeln sich in genau dosierter Hierarchie bis in die hintersten Winkel. Frankreich ist ein Universum, in sich abgeschlossen. Es hat einen Süden und einen Norden, den Atlantik und das Mittelmeer, den höchsten Berg und den längsten Strand und produziert mit Paris und den Regionen Inbilder der Urbanität und der Ländlichkeit. Die europäischen Nachbarn irritiert es durch seine Selbstgenügsamkeit.

Leicht übersehen sie dann, dass das Rahmenwerk der Republik auch deshalb so solide ist, weil es sich enormen tektonischen Spannungen entgegensetzt. Die zwanzig Prozent für Laguiller und Le Pen sind nur das auffälligste Symptom. Zieht man den Fokus etwas weiter auf, so erkennt man, dass die klassischen Formationen der französischen Politik - die Sozialisten, die Kommunisten, die Gaullisten, die liberale UDF und die Grünen - insgesamt vielleicht etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren. An den Rändern tummelt sich ein grandioses Sammelsurium, das bisher nur deshalb nicht gefährlich wird, weil es so heterogen ist. Laguiller ist ja nicht die einzige Trotzkistin. Neben ihr und gegen sie marschieren die Ligue communiste révolutionnaire und die geheimnisumwitterten Lambertisten, denen auch Jospin einst angehörte. Auf der Rechten kämpft Le Pen mit der Formation seines ehemaligen Adlatus Bruno Mégret und dem populistischen Baron de Villiers aus der Vendée. Bei den Sozialisten spaltete sich der Superjakobiner Jean-Pierre Chevènement ab, bei den Gaullisten der Erzpatriot Charles Pasqua. Auch die Grünen und die UDF zerfallen in mehrere Fraktionen.

Frankreich ist ein Museum politischer Strömungen: Bonapartisten scharen sich um die Kaiserliche Hoheit, legitimistische Royalisten bekämpfen orleanistische Verräter und halten am 21. Januar, dem Tag der Köpfung des Königs, separate Gedenkgottesdienste ab. Korsika und Savoyen machen durch Separatisten auf sich aufmerksam. Regionalisten pauken bretonisch. Katholische Integristen lesen die Messe mit dem Rücken zum Publikum. Und auch die Anarchosyndikalisten haben noch eine Bastion: die Gewerkschaft des Reinigungspersonals der Pariser Métro. Ein höchst amüsantes Gruselkabinett also, und wer sich darin bewegt, sollte darauf gefasst sein, dass ihm manch Untoter am Rockärmel zupft.

Wer das Gewusel aber bei Licht besieht, wird schnell erkennen, dass es sich auf ein paar eherne Gegensatzpaare reduzieren lässt. Sie lauten spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung: pro oder kontra Europa, europäischer Föderalismus oder Europa der Nationen, pro oder kontra Jugoslawien-Einsatz, Ablehnung Amerikas oder Lernen von Amerika, pro Markt oder kontra Globalisierung, pro oder kontra Demokratie. 1992 dekretierte François Mitterrand in einer seiner letzten einsamen Entscheidungen ein Referendum zum Maastricht-Vertrag. Eine sehr knappe Mehrheit wählte den Euro - so in etwa liegen seitdem die Kräfteverhältnisse. Aber letztlich stimmten die Franzosen immer richtig ab.

Unter Chirac und Jospin hat sich Frankreich zu seinem Vorteil verändert. Beide stehen in wohltuendem Gegensatz zu Mitterrand. Auch Chirac mag zwar politische Korruption eingesetzt haben, um an die Macht zu gelangen - aber sein gutmütiges Auftreten war doch ein Segen nach Mitterrands perfider Eleganz. Jospin wiederum war Balsam gerade durch seine knochentrockene Lauterkeit. Den größten Effekt aber erzielten die beiden wider Willen dadurch, dass sie über fünf Jahre zur Kohabitation zusammengespannt waren. Denn Chirac hatte 1997 in einer denkwürdigen Dummheit die Nationalversammlung aufgelöst und verlor durch Jospins Sieg eine ihm gewogene Mehrheit. Diesen Fall hatte de Gaulle in seiner Verfassung für die Fünfte Republik nicht vorgesehen. Er selbst wäre in einer solchen Konstellation zurückgetreten - aber diese Grandezza hatte nach ihm niemand mehr.

Die Machtlinien, die den französischen Präsidenten umgeben wie ein Strahlenkranz, sind unterbrochen, wenn im Parlament eine fremde Mehrheit dominiert. Chirac wurde zu einer Art Queen of France. Nolens volens demokratisierte sich die Republik und ließ einen Freiraum, von dem das Land profitierte: Die Wirtschaft wuchs, die Arbeitslosenzahlen sanken. Höhepunkt war der Triumph bei den Fußballweltmeisterschaften, der wie ein unverhofftes Dementi auf die Selbstzweifel am "republikanischen Modell der Integration" wirkte. Was zuvor nur als Problem erschienen war - die ethnische Vielfalt des Landes -, erwies sich als euphorisierendes Potenzial, während die ethnisch homogene, aber überalterte deutsche Mannschaft sang- und klanglos unterging.

Die Deutschen hätten also durchaus ein Interesse, nach Frankreich zu blicken. Im Feld der Integration wagen sie erste zögerliche Schritte, und vielleicht sollten sie sich dabei nicht an der Selbstsegregation der Minderheiten im Namen der political correctness orientieren, wie sie in den USA droht. Aber womöglich ist es ohnehin zu spät. Heute ist es die deutsche Gesellschaft, die als die immobile und ängstliche dasteht.

Bei den französischen Wahlen der nächsten Wochen entscheidet sich unter anderem, ob es einem der Kandidaten gelingt, eine loyale Mehrheit in der Nationalversammlung um sich zu scharen - und ob Frankreich dann wieder in das allzu massive Machtmodell der Fünften Republik zurückfällt, in dem der Staat die Gesellschaft in Schach hält. Aber angesichts der Wirrnis an den Rändern dieser Republik gilt: Es mag ja egal sein, ob die Franzosen für Jospin oder Chirac stimmen. Hauptsache, sie tun es.

Thierry Chervel

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