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Land Art mit beschrifteten Aluminiumtafeln. Die internationale Gedenkstätte von Notre-Dame-de-Lorette, gestaltet von dem Architekten Philippe Prost.

© Aitor Ortiz

Frankreichs größtes Mahnmal zum Ersten Weltkrieg: Nenne die Namen

587 606 Gefallene: Am Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 weiht Präsident François Hollande die Ellipse mit den eingravierten Namen der Toten ein.

John Scott, welch’ häufiger Name! Hans Müller. Jean Dupont. Drei Sprachen, über 580 000 Namen, von A bis Z. Wie nahe sie einander bisweilen kommen, zeigt sich auch beim Nachnamen Abraham. Da gibt es einen John Arthur, einen Louis-Marie, und gleich daneben einen Ludwig. Sie alle sind Gefallene des Ersten Weltkriegs, hier, an einem 80 Kilometer langen Abschnitt der Westfront im Norden Frankreichs zwischen Lille und Arras.

Im kollektiven Bewusstsein der Nation spielt der Abschnitt zwar nicht die Rolle von Verdun oder der Somme, die als „Hauptorte des nationalen Gedenkens“ gelten. Aber genau hier ist nun Frankreichs erstes Denkmal in Erinnerung an den Krieg entstanden, das nicht den Heldentod verherrlicht wie zahllose Kriegerdenkmäler in den Gemeinden des Landes, sondern das an den Frieden gemahnt. In einer eher herben Landschaft, mit schwerem Boden, der sich unter zumeist schwerem Himmel erstreckt.

Am 11. November 1918 war das Morden beendet. Auf den Tag genau 96 Jahre später wird das Denkmal vom Präsidenten der Republik, François Hollande, jetzt eingeweiht, eine große Ellipse, neben Frankreichs größtem Soldatenfriedhof mit weit über 40 000 Gräbern. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nimmt an der Einweihung teil. Die beiden früheren „Erbfeinde“ sind so eng miteinander verbunden wie kaum ein anderes Staatenpaar in Europa, spätestens seit 1963 mit den Elysée-Vertrag. Mit dieser Freundschaft der verfeindeten Nachbarländer hat sich auch das Gedenken gewandelt. Nicht mehr Sieg und Niederlage, Hochmut oder Revanchegelüste bestimmen die Erinnerung, sondern die gemeinsame Beschwörung des Friedens angesichts der Schrecken des Krieges.

Notre-Dame-de-Lorette: Kirche, Friedhof und Mahnmal tragen ihren Namen

Notre-Dame-de-Lorette heißt die Kirche, die dem Friedhof einst seinen Namen gab. Namen finden sich derweil nur auf der Hälfte der Gräber. Der „unbekannte Soldat“, diese mit dem Ersten Weltkrieg und seinen hunderttausenden nicht mehr zu identifizierenden Toten entstandene neue Figur im Wörterbuch des Gedenkens, hat hier 22 000-fach seine letzte Ruhestätte gefunden. Aus über 150 kleinen Friedhöfen an der Front wurden die Toten hierher umgebettet und die Gräber in militärischer Ordnung aufgereiht.

Die Region Nord-Pas de Calais schrieb 2011 in Absprache mit dem Verteidigungsministerium einen Wettbewerb für das Mahnmal aus, neben dem Friedhof und seiner 1937 erbauten Kirche. Der Wettbewerbssieger, der Pariser Architekt Philippe Prost, hat sich am mittlerweile gängigen Vokabular des gebauten Gedenkens orientiert. Er entwarf eine Ellipse aus 236 Betonteilen, die 500 golden eloxierte Aluminiumtafeln in Zickzack-Reihung halten. Auf jeder dieser drei Meter hohen Tafeln sind die Namen von bis zu 1200 gefallenen Soldaten eingraviert, von exakt 578 606 Toten, die in der Region während der Grande Guerre nach den Ermittlungen der betroffenen Staaten zu verzeichnen sind. „Ohne Unterscheidung nach Nation, Dienstgrad oder Religion“ werden die Namen aufgereiht, wie Prost betont.

So groß die Ellipse auch ist, mit 330 Metern Rundweg auf der Innenseite, so knapp ist dennoch der Platz. Auch das ist eine Botschaft: Zu viele sind damals gefallen. Das „Wofür“ spart das Mahnmal aus, kein „Mort pour la Patrie“ wie auf allen französischen Gedenkstelen. Wer das Innere der Ellipse durchschreitet, die mal auf dem Boden liegt, mal in ihn einschneidet, mal über ihm schwebt, wie es die leicht hügelige Landschaft mit sich bringt, der findet keinen Anfang und kein Ende. Nur die Endlosigkeit des Sterbens, das auf nichts hinführt, kein geschichtliches Ziel erreicht. „Die historische Lehre aus dem Ersten Weltkrieg war das Massensterben“, erklärt der Historiker Yves le Maner, Leiter der Auftrag gebenden Mission Geschichte und Gedenken. „30 Prozent der gefallenen Soldaten waren nicht mehr aufzufinden.“

Der Architekt Philippe Prost entwarf die Ellipse

Vier Kriegsjahre lang bewegte sich so gut wie nichts in den Hügeln des Artois. Alles versank und versumpfte. Für das Mahnmal hat man sich jetzt das individuelle Erinnern anstelle des kollektiven Gedenkens oder gar der staatlichen Feier zum Leitbild gewählt. Die Stichworte lauten „Brüderlichkeit“ und „Frieden“. Architekt Philippe Prost ereifert sich: „In Europa denken wir an Fragen der Verwaltung und des Geldes – aber es ist der Frieden, auf dem der gemeinsame Euro basiert“. Zugleich soll das teilweise Schweben der Ellipse über dem welligen Gelände dessen Fragilität unterstreichen.

Wegen des großen Anteils von Entente-Truppen an der Seite der Franzosen, vor allem aus Großbritannien und seinen Kolonien, gibt es in der Gegend von Arras zahlreiche Soldatenfriedhöfe beteiligter Nationen. Der größte und eindrucksvollste ist der kanadische in Vimy, überragt von einem Denkmal in Form einer riesigen Doppelstele aus blendend weißem Kalkstein, das den von kanadischen Truppen eroberten Höhenrücken von Vimy krönt. Umrahmt von allegorischen Figuren und mit hergerichteten Schützen- und Laufgräben verziert, stellt das 1936 eingeweihte Vimy genau jenes sinnerfüllte Heldengedenken der Zwischenkriegszeit dar, von dem sich das Mahnmal Frankreichs jetzt bewusst absetzt.

Mit dem nahe gelegenen deutschen Soldatenfriedhof von Maison-Blanche, der mit 44 833 Gräbern der größte deutsche Friedhof in Frankreich ist, hat es schon mehr gemeinsam. Schlichte schwarze Metallkreuze, jeweils mit vier Namen versehen, markieren die Reihen unter schützenden Bäumen, dazwischen finden sich gelegentlich Steine für jüdische Soldaten. Hier gibt es naturgemäß keine Heldenverehrung, sondern die von der französischen Siegermacht damals eben so geduldete Totenruhe. Die Bäume und der Grasteppich schaffen eine von der aufblitzenden Wintersonne eigentümlich vergeistigte Atmosphäre. Die Eintragungen im Besucherbuch versuchen, dem erschütternden Erlebnis Ausdruck zu geben.

Vimy, Maison-Blanche, Notre-Dame-de-Lorette: drei Etappen der Geschichtsbewältigung, von den Beteiligten und ihren Angehörigen bis zu den Nachfahren und den Nationen als Ganzes. Kanada erlebte seine Geburtsstunde als gleichberechtigter Staat im britischen Commonwealth auf den Schlachtfeldern Frankreichs. Daher die triumphale Geste des Denkmals von Vimy. Deutschland erlebte eine Niederlage, die erst im Zuge der Aussöhnung mit Frankreich wirklich historisch werden konnte. Und Frankreich, in dessen Boden sich der Krieg der Westfront festfraß, hat erst jetzt Abstand gefunden zu seiner gern beschworenen Gloire.

Insofern bedeutet die Ellipse von Notre-Dame-de-Lorette für die Nation einen Abschied – und den Übergang in eine ganz und gar zivile Gesellschaft. Das verleiht dem Sterben der Millionen keinen nachträglichen Sinn. Aber wenigstens wird der Gefallenen John Arthur, Louis Marie und Ludwig Abraham nun würdig gedacht.

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