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Franz Hessel: "Spazieren in Berlin": Der Flaneur als Auge der Stadt

Neu ediert: Franz Hessels legendäres Berlin-Buch "Spazieren in Berlin".

Im selben Jahr 1929, als Alfred Döblin seinen „Berlin Alexanderplatz“ publiziert, erscheint auch Franz Hessels „Spazieren in Berlin“. Der Kolossalroman und die poetische Skizze – beide sind sie Berlins frühe Jahrhundert-Bücher. Hessel aber, der feine, scheue Flaneur, ist nie so ganz berühmt geworden, anders als sein Freund und Kollege Walter Benjamin (mit dem zusammen er Proust übersetzte).

Daran hat nicht einmal die Verfilmung eines Teils seiner realen Lebens- und Liebesgeschichte etwas geändert. In Francois Truffauts deutsch-französischer Tragikomödie „Jules und Jim“ hatte der zauberhafte Oskar Werner als Jules eigentlich Franz H. verkörpert. Verfolgt von den Nazis, war der zwischen Berlin und Paris hin- und hergerissene jüdische Erzähler und Essayist bereits 1941 in Südfrankreich gestorben. Erst in den 80er Jahren wurde Hessel vor allem dank des Engagements des Düsseldorfer Literaturwissenschaftlers Bernd Witte wiederentdeckt.

Nun stellt der kleine Verlag für Berlin-Brandenburg eine von Bernd Witte kommentierte und von Stéphane Hessel liebevoll klug eingeleitete Neuedition der Berlin-Streifzüge vor. Stéphane, der Sohn von Franz Hessel, ist jetzt mit 93 Jahren noch zu spätem Starruhm durch seinen Weltbestseller-Aufsatz „Empört euch!“ gelangt. Der französische Ex-Diplomat und engagierte Menschenrechts-Aktivist wird das „Spazieren“ heute Abend in Berlin vorstellen – und tatsächlich hat er, 1917 in Berlin geboren, seine Vaterstadt erst durch die Augen des Vaters kennengelernt.

Das Berlin, das Franz Hessel am Ende der Weimarer Republik auf vielen Wegen und durch viele Milieus, vom rußigen Hinterhof bis zum Glitzersalon mit unerschöpflicher Aufmerksamkeit durchstreift, existiert heute nur noch in Spurenelementen. Hessel aber hat für die rastlose Umbruch-Dynamik der Metropole („Hier geht man nicht, sondern wohin“) bereits den pompejanischen Blick. Bauten, Menschen, Situationen beobachtet er als hellsichtiger Archäologe der Gegenwart, der zugleich der Zukunft ins Gedächtnis schreibt: wie zuvor der junge Kerr oder der alte Fontane in ihren Stadt-Feuilletons, wie auch Walter Benjamin, der seine eigene „Berliner Chronik“ einst Hessel gewidmet hat. Einen schöneren Berlin-Reiseführer gibt es bis heute nicht. Peter von Becker

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, Vorwort von Stéphane Hessel. Verlag für Berlin-Brandenburg, 235 Seiten, 19,90 €. Am heutigen Dienstag stellt Stéphane Hessel das Buch um 20 Uhr im Berliner Jazz-Institut vor, Einsteinufer 43-53 (Kasse ab 19 Uhr, Infos beim Literaturhaus Berlin).

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