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Erster Europäer. Für seinen Schwiegersohn Richard Wagner machte er in Bayreuth bereitwillig „den Pudel“, selbst galt er als Inbegriff des rastlos reisenden romantischen Klaviervirtuosen: Franz Liszt (1811–1886), hier auf einem Gemälde von Henri Lehmann.

© dpa

Franz Liszt: Sich in die Unsterblichkeit spielen

Der Visionär Franz Liszt: 2011 feiern wir seinen 200. Geburtstag. Verkannt wird der Komponist und Pianist immer noch.

Liszt existierte in meiner Jugend nicht. Schlimmer noch, er existierte nur als leicht bespöttelte Figur, die keinen interessierte – „der Abbé“ hieß es immer ironisch, wenn von Liszt einmal die Rede war. Neben dem „Abbé“ gab es den ebenfalls verachteten „Klaviervirtuosen“, der irgendwie dorthin gehörte, wo die von Siegfried Wagner als „Kammermusikheuchler“ bezeichneten Musikfreunde zu finden waren, in der Sphäre der Salons, Soloabende und Kammerkonzerte. Zum einen wurde also das Katholische an Franz Liszt in unserem protestantisch angehauchten Haushalt als anstößig empfunden, zum anderen die Vorstellung von Virtuosität und einsam egoistischer Brillanz. Warum sich also um den Ahn kümmern? Er lag irgendwie falsch – konfessionell wie kompositorisch.

Ich sehe meinen Vater Wieland noch tief schlafen in einer Aufführung der „Heiligen Elisabeth“, die er aus repräsentativen Gründen hatte besuchen müssen. Und sollte es jemals Klavierabende mit Werken von Franz Liszt im Markgräflichen Opernhaus oder der Stadthalle gegeben haben – die Familie glänzte durch Abwesenheit und Ignoranz. Im Hause Wolfgang Wagners dürfte es nicht anders zugegangen sein – einigermaßen merkwürdig, wenn man den kompositorischen Rang und die lebenslangen Leistungen Franz Liszts für Richard Wagner bedenkt (...) – von den revolutionären Anfängen des Flüchtlings aus Dresden bis in die späten Jahre, als es galt, die Bayreuther Festspiele zu etablieren. Da kam Franz Liszt von Weimar herüber und „machte den Pudel“ für Wagner, wie er sagte, gab seine damals berühmtere Person zu Werbezwecken für den Freund her. Das Studieren und Instrumentieren der Werke des Großvaters gehörte denn auch durchaus zu Cosimas Erziehungsprogramm für den Sohn Siegfried.

Umso erstaunlicher die negative Besetzung Liszts in der Folge, die Geschichte seiner allmählichen Verdrängung. Alte Ressentiments scheinen sich hier zu einer undurchsichtigen und unreflektierten Abwehr geformt zu haben. Und es ist Cosima, die daran maßgeblich und lenkend beteiligt ist. Hatte Wagner sich bei der Eröffnung Bayreuths selbstverständlich zu Liszt bekannt und seinen Dank an ihn öffentlich zum Ausdruck gebracht, so wird Cosimas ambivalentes Verhältnis zum Vater einmal in aller Schärfe offenbar: Als Liszt während der Festspiele 1886 stirbt, gibt es keine Unterbrechung der Spiele, keine Ehrungen, keine musikalische Trauerfeier für den, der in Wahnfried aufgebahrt liegt, nur ein kurzes Requiem nach dem Begräbnis, wobei nicht etwa seine Musik gespielt wird, sondern es muss Anton Bruckner – auf Geheiß Cosimas – über das Glaubensthema aus dem „Parsifal“ improvisieren.

Vielleicht waren die Familienverhältnisse zu eng gestrickt, vielleicht war einfach kein Platz mehr für Liszt im Familienkäfig. Der inneren Abschiebung entsprach die äußere Lage: Liszt wohnt und stirbt nicht zufällig in einem bescheidenen Haus neben der prächtigen Villa Wahnfried. Lebenslange Konflikte zwischen Vater und Tochter müssen bei dieser Abschiebung mitgespielt haben, ein kompliziertes, von gegenseitigen Kränkungen und Schuldgefühlen durchzogenes Beziehungsgeflecht tat seine Wirkung. Früh hatte Liszt seine französischen Kinder und ihre gräfliche Mutter verlassen, aber als Cosima ihren ersten Mann, Hans von Bülow, für Wagner verlässt, bricht der Vater mit der Tochter – für sie unverständlich. Und weil die Konkurrentin der Mutter, Liszts erzkatholische Geliebte Caroline zu Sayn-Wittgenstein in diesem Gefüge besonders ungut agierte, können Rachewünsche und kompensatorische Bedürfnisse bei Cosima nicht ausbleiben. Aber auch Wagners Schuldkomplexe gegenüber dem ewig zu eigenen Zwecken eingesetzten und ewig zu Hilfeleistungen eingespannten Freund sind bekannt. Später treten die konfessionellen Differenzen der beiden scharf hinzu. Je eigenwilliger Liszts Katholizismus wurde, desto mehr ging er Cosima und Richard auf die Nerven. Cosima war, von Wagner angeleitet, zum Protestantismus übergetreten, und was es mit Wagners Religiosität auf sich hatte, davon gibt das Durcheinander im Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ beredtes Zeugnis.

Liszt 1869.
Liszt 1869.

© epd

Im Grunde aber ging es nur um eines: Trotz der engmaschigen Verhältnisse musste die musikalische Rangordnung abgesichert, der „erste Platz“ in der Musikgeschichte gewahrt werden. So ungefährlich war die Sache – vor allem aus Cosimas Sicht – nämlich nicht. Wagner erklärte 1859, dass er nach der Bekanntschaft mit den Kompositionen Liszts „ein ganz andrer Kerl als Harmoniker“ geworden sei. Jeder der fast Gleichaltrigen komponierte einen „Faust“, und zumindest dem Stoff nach überschneiden sich der „Tannhäuser“ und die „Legende der Heiligen Elisabeth“. Mit dem Konzept des Musikdramas meinte Wagner dann, sich an die Spitze der Entwicklung gesetzt zu haben: Der philosophische Auftrag der Musik habe, so der Komponist in eigener Sache, über Beethovens Neunte im Musikdrama die Erfüllung gefunden. Die Zukunft gestaltete also Wagner, nicht Franz Liszt mit seinen Klavierwerken, „wortlosen“ symphonischen Dichtungen oder gar seinen altmodischen geistlichen Oratorien und Messen.

Aus der strategischen Perspektive des Hauses Wahnfried sprach alles dafür, Liszt auf ein Nebengeleis der Musikgeschichte abzuschieben. Das war in der sich politisierenden, immer stärker ins Deutschnationale driftenden Atmosphäre wahrscheinlich sogar eine verträgliche und milde Lösung. Denn sonst hätte man sich gravierende Konflikte eingehandelt. Passte der in der französischen Sprache verwurzelte, aber nirgends heimische Liszt nicht eigentlich hervorragend ins Schema der insistent gepflegten Vorurteile der Wagners? Vom Salonmusiker zum Effektmusiker, den Wagner seit seinen (vermeintlichen) Demütigungen in Paris mit Hass verfolgte, ist es kein großer Schritt. Die Figur Liszts, in den politisch-ideologischen Koordinaten der Wahnfried-Wagners wahrgenommen, müsste irgendwann problematisch erscheinen – allzu tief die Aversion Wagners gegen das verderbte Französische oder Welsche zugunsten des „echten Deutschen“.

Es bedurfte wohl der Mobilisierung aller alten Gefühle der Dankbarkeit und positiven Liebesregungen, damit der „geliebte Franz“ nicht wirklich ins Visier geriet, sondern nach außen halbwegs integriert erschien. Musikalisch und ideologisch sind die eng ineinander verstrickten Personen weit voneinander entfernt, alte Psychodramen grundieren die Verhältnisse. Die Fremdheit wuchs. Solange Wagner noch lebte, war eine Verdrängung und Abwertung Franz Liszts in Wahnfried jedoch nicht wirklich möglich. Das verbot auch der Anstand. Erst bei Liszts Tod und Cosimas respektloser Abwicklung seines Begräbnisses wird schlagartig sichtbar, in welchen Ängsten um jenen ersten Platz in der Musikgeschichte die Wagners gelebt haben müssen, trotz aller Selbstgewissheit nach außen.

Ab der Mitte des 19. Jahrhundert hatte Franz Liszt sich in Weimar angesiedelt und den Mut gehabt, die Nachfolge Goethes und Schillers im Zeichen der Musik anzutreten – aus dem literarisch-philosophischen Weimar der Nachklassik also eine Stadt der zeitgenössischen Musik zu machen, ein musikalisches „Neu-Weimar“. Mit Franz Liszt ist die Moderne in Weimar eingezogen, ein erneuertes Hoftheater, ein neues und fortschrittliches Musik- und Kulturmanagement. Er brachte Wagner, Berlioz, Schumann in die kleine Stadt: „Kunst, Kunst, Kunst“, wie er sagte, als dem Weimar einzig Gemäßen.

Weimar bedeutete aber auch das große persönliche Wagnis für Liszt, den biografischen Bruch. Hier wurde der gefeierte Pianist zum Komponisten. Zwar war schon der Pianist „kreativ“, indem er die technischen und klanglichen Möglichkeiten des Klaviers so erweiterte, dass gleichsam ein Orchester daraus wurde, nun aber kehrte er diese Verhältnisse um. Als Komponist behandelte Franz Liszt das Orchester wie ein Klavier, er spielte Klavier auf dem Großinstrument Orchester. Auf diese die Person des einzelnen Pianisten transzendierende Weise erfüllte er sich die letzten Wünsche aller Künstler: Er spielte sich in die Unsterblichkeit. Als Pianist, auch als der bedeutendste seines Jahrhunderts, wäre Franz Liszt eine für immer verklungene Legende geblieben.

Was mich so fasziniert an ihm? Es ist kaum der religiöse, katholische Liszt, sondern die Figur des Reisenden, Wandernden, Unruhigen. Liszts verschiedenen Metiers und Identitäten – er war Pianist, Dirigent, Komponist, Pädagoge, Organisator des musikalischen Lebens, Geistlicher, Publizist – entsprach ein Panorama musikalischer Stile, seinen Reisen durch die europäischen Länder innere Wechsel und Transgressionen. Er hat sich einmal als musicien-voyageur bezeichnet und wandert in seinen Werken wirklich vom Profanen, Ausladenden, Lärmenden bis zum Sublimsten und Transzendenten, zu äußerster Kargheit. Es gefällt mir auch seine musikalische Assimilationsfähigkeit, sein mangelndes Problembewusstsein dessen, was „original“ heißt. Liszt ist kein Purist. Es gefällt mir, wie sich seine musikalischen Fantasien die musikalische Form unterwerfen, man denke an die h-Moll-Sonate. Sein Romantisches im schönsten Sinn gefällt mir – als das unbedingte Gefühl, die Generosität, die entgrenzenden Träumereien und exzessiven Erforschungen anderer Welten. (...)

Faszinierend finde ich aber auch das Rätselhafte seiner Figur. Man weiß nie, wer er wirklich ist, er scheint die Masken und Rollen zu wechseln – bei gleichzeitiger tiefer innerer Aufrichtigkeit. Diese vielfache Identität darf aber nicht als Schauspielerei oder moralische Chamäleonhaftigkeit verstanden werden, sondern, wie Siegfried Schibli dies überzeugend dargestellt hat, als Quelle seiner spezifischen Kreativität. Aus dieser Perspektive zeigt sich Liszt als der Moderne par excellence. Die Auflösung des festen Ich- Begriffs markierte den Beginn der Moderne, mit dem frühen 20. Jahrhundert wird die multiple Identität oder auch die Ichlosigkeit entdeckt. Vom „unrettbaren Ich“ sprach, einvernehmlich mit dem Philosophen Ernst Mach, der Schriftsteller Hermann Bahr in Wien – beide gehörten zu den ersten hellsichtigen Diagnostikern der Moderne. Vielleicht darf man Liszts Leidenschaft für Transkriptionen auch einmal in diesem Licht sehen. Wo kein fester originaler Kern ist, kann nur umschrieben, übersetzt, angenähert, umkreist, weitergesucht werden. „Echtheit“ als fragwürdiger Begriff ist ebenfalls eine moderne Erkenntnis. Dass der späte Liszt den Boden der Tonalität verlässt, ist nur konsequent. Kein Reisender lässt sich von irgendwelchen Grenzen aufhalten. Die moderne mobile Lebensform des Voyageurs Liszt und seine Kunstformen sind eng miteinander verzahnt. Das macht seine Glaubwürdigkeit jenseits aller Girlanden und Triller und Akkordkaskaden aus, jenseits aller vermeintlichen Posen und hemmungsfreien Identifikationen mit anderen.

Keiner hat die Modernität Liszts treffender charakterisiert als Bartók. Während Wagner, so Bartók, die avanciertesten Entwicklungen des 19. Jahrhunderts resümiert und geschlossen habe, öffneten sich mit Liszt die Türen zum 20. Jahrhundert.

Nike Wagner ist Ururenkelin des Komponisten Franz Liszt, Urenkelin von Richard Wagner und Tochter Wieland Wagners. Seit 2004 ist sie künstlerische Leiterin des Kunstfestes Weimar, das sich mit seinem Beinamen „pèlerinages“ bewusst in die Nachfolge Franz Liszts gestellt hat. Dieser Text ist das überarbeitete Manuskript des Vortrages „Franz Liszt in Wagners Wahnfried“, gehalten bei den Weimarer Liszt-Tagen in Bayreuth im Oktober 2005.

Nike Wagner

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