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Stadt als Abenteuerspielpatz: Seine jugendlichen Darsteller hat der Regisseur in den Straßen von Montfermeil entdeckt.

© Wild Bunch

Französischer Oscar-Favorit: „Die Wütenden“ erzählt vom Alltag in der Pariser Banlieue

Neue Farben für die Trikolore: Regisseur Ladj Ly will ein französisches Kino, das endlich so aussieht wie sein Land.

Von Andreas Busche

Anders als zur Zeit Victor Hugos sind die „Elenden“ der Pariser Vororte nicht mehr von der Metropole abgeschnitten. Die U-Bahn verbindet Montfermeil mit den Champs-Élysées, an denen sich im Sommer 2018 halb Frankreich versammelt hat, um vor dem Arc de Triomphe die Fußball-WM zu feiern. Übermütig strömen die Kids afrikanischer und maghrebinischer Herkunft aus den Zügen, ihre Gesichter sind mit den französischen Nationalfarben bemalt, ihre Trikots zieren die Namen ihrer Helden: Ousmane Dembélé und Kylian Mbappé. Kinder von Einwanderern, wie sie. Für einen Tag dürfen sich die Jugendlichen fühlen, als gehörten sie zu Frankreich.

„Frankreich schwebt auf einer Trikolore-Wolke“, sagt die zynische Vorgesetzte (Jeanne Balibar) der beiden Banlieue-Polizisten Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) zur Begrüßung zum Neuankömmling Stéphane (Damien Bonnard), der sich vom ländlichen Cherbourg an den sozialen Brennpunkt hat versetzen lassen. „Lasst uns die WM- Sieg-Euphorie nutzen.“ Das Thermometer zeigt 35 Grad, zu heiß für Randale in den Straßen. „Bei 30 Grad wären alle draußen, es gäbe erhitzte Gemüter und Streit.“ Ein perfekter Tag also für eine kleine Tour durch die neue Nachbarschaft, in der Afrikaner, Muslimbrüder und Roma-Familien mehr oder weniger friedlich miteinander leben.

Der Originaltitel spielt auf Victor Hugos „Les Misérables“ an

Der französische Regisseur Ladj Ly ist in Montfermeil geboren, er lebt bis heute in dem Stadtteil, der 2005 durch die landesweiten Unruhen in die Schlagzeilen geriet. Der Titel seines Langfilmdebüts „Les Misérables“, der als „Die Wütenden“ in die deutschen Kinos kommt, spielt ironisch auf Victor Hugos Gesellschaftsroman an, der Mitte des 19. Jahrhunderts in dem Stadtteil angesiedelt ist. Der Name einer Grundschule erinnert noch an den Schriftsteller.

„Viel hat sich nicht geändert“, meint Stéphane beim Blick aus dem Autofenster. Sein Kollege Chris grinst. „Der da drüben“, sagt er mit einem Nicken in Richtung einer Gruppe junger Araber, „ist als Gefährder gelistet und hat drei Jahre lang in Syrien Köpfe abgehackt. Und der mit der Kappe hat seine Frau aus dem Fenster geworfen, weil sie zu viel redete.“ Alltag in der Banlieue – glaubt man den französischen Medien.

Auch der 41-jährige Ly ist mit diesen Vorurteilen aufgewachsen. Seine Eltern kamen aus Mali. 1998, da war er gerade 18, dachte er zum ersten Mal, er wäre auch endlich Franzose. Wie die Jugendlichen am Anfang seines Films. In dem Sommer wurde Frankreich erstmals Weltmeister. Die Stars der équipe tricolore sahen aus wie der junge Ladj, sie hießen Thierry Henry, Patrick Vieira und Zinédine Zidane. Plötzlich war die Trikolore nicht mehr „Bleu, blanc, rouge“, sondern „Black, blanc, beur“: schwarz, weiß, arabisch. Ein Hoffnungsschimmer. Doch einige Jahre später brannte die Banlieue.

Nominierung für die Goldene Palme ist ein hoffnungsvolles Signal

Im Interview spricht Ladj Ly nicht gerade versöhnlich über sein Land – obwohl sein Film seit der Weltpremiere in Cannes eine erstaunliche Erfolgsgeschichte geschrieben hat. In Cannes gewann er den „Preis der Jury“, außerdem ist er als französischer Kandidat für den Oscar nominiert. Anfang Dezember war Ly für den Europäischen Filmpreis in Berlin, wo er am Abend als „Entdeckung“ ausgezeichnet wurde. Nicht schlecht für einen Jungen aus Montfermeil, der nach eigenem Bekunden nie auf der staatlichen Filmhochschule „La Fémis“ angenommen worden wäre.

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Auf die Frage, wie er den Preis in Cannes bewertet, wo er und die Regisseurin Mati Diop, die mit ihrem Debüt „Atlantique“ den Großen Preis der Jury gewann, 2019 als die ersten afrofranzösischen Filmemacher für die Goldene Palme nominiert waren, entgegnet Ladj Ly knapp: „Es ist ein hoffnungsvolles Signal, aber es kann nur der Anfang sein.“ Schon die WM-Siege hätten das Verhältnis der Franzosen zu seiner Generation nicht verbessert. „Frankreich hat sein Problem mit der eigenen Kolonialgeschichte bis heute nicht geklärt. Keiner weiß, was es heißt, Franzose zu sein.“

Um diese Frage der Identität dreht sich in gewisser Weise auch „Les Misérables“. Ly, der zusammen mit Giordano Gederlini und seinem Hauptdarsteller Alexis Manenti das Drehbuch geschrieben hat, überstrapaziert die Hugo-Bezügen nicht, wodurch der deutsche Titel „Die Wütenden“ plötzlich eine weitere Ebene in das Sozialpanorama des Klassikers einzieht.

Seine Montfermeil-Bewohner, vor allem die Jugendlichen, sind keine anonyme proletarische Menge mehr, sondern eigenständige Subjekte, die sich die Schikanen der Autorität nicht länger gefallen lassen. Ly hat die meisten Darsteller direkt auf den Straßen Montfermeils gecastet, viele kannte er schon von der Arbeit an dem gleichnamigen Kurzfilm (2017), mit dem er Geld für sein Debüt akquirierte.

Gegenerzählung zu den Darstellungen der Banlieue in den Medien

Eine Entdeckung ist der Newcomer Djibril Zonga, der den Polizisten Gwada spielt. Während Chris’ unverhohlener Rassismus noch dem Klischee des Law- and-Order-Cops entspricht, steht Gwada zwischen den (kulturellen) Fronten: Nach der Arbeit kehrt der schwarze Polizist zu seiner Mutter zurück, die noch immer in Montfermeil lebt. Ly versteht „Die Wütenden“ als eine Gegenerzählung zu den Darstellungen der Banlieue, die in den französischen Medien kursieren. Die Kriminalität, die kulturellen Spannungen sind ein Aspekt dieser Realität, aber nicht die ganze Geschichte.

Die drei Polizisten fungieren als Türöffner in diese Welt, Lys Helden aber sind die Jugendlichen, die zwischen die Fronten der Clans und der Polizei geraten. Der nerdige Buzz (Al-Hassan Ly) will mit seiner Drohne bloß die älteren Mädchen im Nachbarhaus beobachten, filmt dabei aber einen gewalttätigen Übergriff der Polizei. Issa (Issa Perica) klaut für ein Instagram-Foto aus dem Zirkus ein Löwenbaby, was beinah zu einem Bandenkrieg zwischen Roma und Afrikanern führt.

Ladj Ly ist der erste afrofranzösische Regisseur im Cannes-Wettbewerb.
Ladj Ly ist der erste afrofranzösische Regisseur im Cannes-Wettbewerb.

© Wild Bunch

Chris, Gwada und Stéphane werden, so das Gesetz der Straße, auf ihren Patrouillenfahrten von den hämischen Montfermeillois zu Statisten degradiert, was durchaus auch komisches Momente hat. So changiert „Die Wütenden“ lange zwischen Milieustudie und Polizeifilm, bis die Rivalitäten im Viertel, angefeuert durch das unverhältnismäßige Vorgehen der frustrierten Polizisten, eskalieren. Am Morgen von Stéphanes zweitem Arbeitstag liegt eine verdächtige Ruhe über den Hochhausdächern von Montfermeil.

In Wohnblock des Regisseurs leben Menschen aus 25 Nationen

„Die Wütenden“ ist eine wichtige Ergänzung des französischen Cinéma Beur – 35 Jahre nach Mehdi Charefs autobiografischem „Tee im Harem des Archimedes“. Ly orientiert sich stilistisch eher am amerikanischen Actionkino, besonders am Polizeifilm „Training Day“, dessen prozedurale Erzählstruktur über gut 24 Stunden „Die Wütenden“ übernimmt. Die äußere Handlung dient in erster Linie aber dazu, das soziale Gewebe Montfermeils freizulegen. „Allein in meinem Wohnblock leben Menschen aus 25 Nationen. Die wurden dort alle geparkt“, erzählt Ly. „Aber die Mischung macht auch den Reichtum dieses Viertels aus.“

Dass Ly, der sich eher als Aktivisten denn als Regisseur bezeichnet, vom Dokumentarfilm kommt, merkt man „Die Wütenden“ in den beiläufigen Alltagsbeobachtungen noch an. 1994 gründeten er und seine Jugendfreunde Toumani Sangaré und Romain Gavras, der Sohn Costa-Gavras, das Kollektiv Kourtrajmé, das in Frankreich mit Internet-Reportagen und Fake-Dokus über das Leben in der Banlieue bekannt wurde.

Seinen unverhofften Erfolg will Ladj Ly jetzt nutzen, um seine im vergangenen Jahr eröffnete Filmschule in Montfermeil zu promoten – nicht zuletzt, um dem Elitarismus der französischen Kinobranche etwas entgegenzuhalten. „Wir wollen eine Schule, die so aussieht wie Frankreich." Er selbst möchte sich nie wieder entscheiden müssen, ob er mehr Franzose oder mehr Malier ist.
Ab Donnerstag in den Kinos

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