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Großes Konfliktpotential. Szene aus Joël Pommerats „Ca ira (1) Fin de Louis“.

© Elizabeth Carecchio / Nanterre-Amandiers

Französisches Theater: Die revolutionäre Kunst des Zuhörens

In Paris ist das Theater politisch wie lange nicht – es zeigt den Zustand der Republik. Stücke von Joël Pommerat und Claude Régy betonen dabei die Macht der Sprache.

Wenn Frankreich erschüttert wird und sich erschrocken auf die Suche nach dem Urquell seiner nationalen Identität machen muss, verständigt es sich in der Regel auf die Revolution. Auf Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das Motto verbindet die französische Republik von heute mit der Revolution von 1789. Diese als Prozess nachzuzeichnen, ist Ziel in Joël Pommerats „Ca ira (1) Fin de Louis“. Es ist das Stück der Saison und wird bis Mitte 2017 durch ganz Frankreich touren. Die viereinhalbstündige Aufführung versetzt die Franzosen von heute gewissermaßen mitten in den Debattenlärm der Zeit ab 1789 zurück. Zu sehen ist ein auf ausführlicher Recherche in historischen Dokumenten basierendes figurenreiches Dokumentartheater, das in deutscher Übersetzung derzeit in Dortmund nachgespielt wird.

Die historischen Akteure sitzen mit im Publikum, machen mit Zwischenrufen auf sich aufmerksam, mit Klatschen und Beschimpfungen. Der Theatersaal wird zum Hexenkessel beim Brauen eines Zaubertrankes, in dem sich gute Absichten mit neuen Ideen und nicht nur guten Gefühlen mischen. Pommerat hat bis auf den Monarchen Ludwig XVI. alle üblichen Protagonisten der Zeit verschwinden lassen, kein Robespierre, kein Saint- Just, kein Danton und auch keine Rüschenseligkeit und Sansculotten-Folklore, die das Thema in Medien, Film und Theater seit Langem umflort.

Kampf der Sprache für und gegen die Macht der Verhältnisse

Bei Pommerat versammeln sich die Akteure in heutigen, meist grauen Anzügen; ihre Gesichter meißelt scharfes Licht aus dem schwarzen Bühnenumfeld heraus. Es geht um nichts als den Kampf der Sprache für und gegen die Macht der Verhältnisse. Um Ausflüchte und um Appelle, um Überzeugungsreden und um Wutausbrüche, um künftige Gesetzestexte und um Tagesordnungsprosa.

Der Beginn verheißt nichts Gutes. Der Premierminister hat Adel und Klerus versammelt und appelliert an die Einsicht, dass sie als die großen Eigentümer des Landes angesichts einer horrenden Staatsverschuldung auf Steuerprivilegien verzichten müssen. Wie immer in der Geschichte der Menschheit leitet eine Schuldenkrise den Epochenwechsel ein. Mit eitlen Formeln will ein Vertreter des Klerus die hoch privilegierte Kirche aus der finanziellen Mitverantwortung für einen hoch überschuldeten Staatshaushalt herausreden, mit zunehmend offenen Drohungen entledigen sich die Adeligen ihrer finanziellen Aufgabe.

Fundis und Realos im ewigen Kampf um die Strategie

Dann ein Blick in die Versammlung des dritten Standes, wo eine Confisière klagt, die Nonnen machten ihr mit ihrer Klosterproduktion von Süßigkeiten eine illegitime Konkurrenz. Ruck, zuck hat der Zuschauer von heute verstanden, wie die Kirche Steuerprivilegien in Subventionen und Marktvorteile verwandelt. Der reformwillige Finanzminister wird entlassen, der Adel schlägt zurück, verweigert jeden Dialog mit den Vertretern der Arbeiter und Handwerker, bis sich die Versammlung des dritten Standes entschließt, sich selbst zur Volksversammlung zu erklären.

Jetzt erleben wir Kompromissler und Hardliner, Fundis und Realos im ewigen Kampf um die Strategie. Währenddessen kündigt sich im Hintergrund mit Rauch und dem fernen Grollen der Kanonen die Epoche der Gewalt an. Brisant wird die in schnell eingerichteten Tableaus erzählte Revolutionschronik in dem Moment, in dem den Armen im Land wirklich nichts mehr bleibt als ihr Hunger. Die blutigen Taten der Straße übertönen die Worte. Aber nach viereinhalb Stunden haben sie den Weg bereitet für Jahrhunderte des aufgeklärten Zusammenlebens.

Die Sprache selbst wird zelebriert

Nanterre-Amandiers entlässt seine Zuschauer aufgemischt, nachdenklich, optimistisch in die Nacht. Das Theater ist die größte Vorstadtbühne im Raum Paris, stammt aus den 1970er Jahren und ist steinerner Ausdruck des Traums vom demokratischen Kulturbetrieb. Patrice Chéreaus große Arbeiten kamen hier heraus. Die Vorstadtbahn fährt nicht mehr, mit dem Bus geht es spät zurück nach Paris. Das junge Publikum redet über die Aufführung – wie sehr die gezeigten Probleme denen der Gegenwart gleichen. Und dass die Adeligen von einst mit ihren Tricks, der Steuer zu entgehen, heute die großen Konzerne sind: Apple etwa oder L’Oréal. Dann bleibt der Bus kurz vor der Place Charles-de-Gaulle in einem Stau hängen, die Luxuslimousinen vor dem Eingang zu einer Reichen-Party hervorrufen. Ein unscheinbarer Passant nutzt die Chance für eine Machtdemonstration: Er stellt sich vor den Bus, hält die Hände vor die Windschutzscheibe, zeigt den Stinkefinger. Ein Menschlein gegen 20 Tonnen. Ein Moment der Revolte gegen Werweißwas?

In ein Theater der Umnachtung entführt der 93-jährige Claude Régy sein Publikum Tage später. Der Regisseur hat Georg Trakls finstere Untergangslyrik „Traum und Umnachtung“ in ein mystisches Ritual übersetzt. Hier wird nichts verkörpert, keine Figur gespielt (schon gar nicht die des verrückten Dichters), sondern die Sprache selbst wird zelebriert und ihre Grenzen zum nicht mehr Sagbaren ausgelotet. Dabei ist Trakls verstörende und in Brüchen zerklüftete Ansammlung von Bildern zu einer Beschwörungsrede geworden, zu einem elegischen Theater-Voodoo. Claude Régy hat angekündigt, dass dies seine letzte Theaterarbeit sei. „Rêve et Folie“ wird damit zum letzten Beispiel einer in Europa einmaligen radikalen Regiehandschrift.

Geschichten der Flucht, des Wartens und Hoffens

Das Festival d’Automne versteht sich als Gütesiegel, mit dem sowohl ausländischen Gastspielen als auch heimischen Neuproduktionen Pariser Metropolenglanz verliehen wird. Manchmal ist es aber auch ein dringender politischer Appell, der gehört werden soll: Migranten aus Abidjan, aus Ouagadougou, aus Dhaja hatten in Aubervilliers ein stillgelegtes Arbeitsamt besetzt.

Die Adresse 81, Avenue Victor Hugo ist zum Inbegriff einer kollektiven Selbstorganisation geworden, deren Geschichte am Théâtre de la Commune zu einem Stück verarbeitet wurde. Geschichten der Flucht, Geschichten des Wartens und Hoffens auf Papiere, die Aufenthaltsgenehmigung. Die Situation in Frankreich ist jetzt so, dass der Präsident eigentlich eine Nationalversammlung einberufen müsste, wie Ludwig XVI. Es ist aber zu befürchten, dass es heute wieder einen ersten Stand gibt, der die Debatte genauso verweigert wie dereinst, 1789, Adel und Klerus. Dabei lehrt das Theater doch: In den Worten und ihrer freien Zirkulation steckt die Macht für eine Schaffung einer besseren Zukunft.

Eberhard Spreng

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