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Protestaktion in einer Shopping Mall in Mumbai: "Mumbai hat schon früh ein ziviles Bewusstsein entwickelt"d

© dpa

Frauenrechte in Indien: „Das Land sitzt auf einem Pulverfass“

Die Schriftstellerin Geetanjali Shree spricht im Interview über die alltäglichen Übergriffe auf junge Frauen in Indien. Sie sagt: die männliche Libido ist nicht das einzige Problem.

Frau Shree, diese Woche beginnt in Neu-Delhi der Prozess gegen die Vergewaltiger einer Studentin, die an den Folgen einer grausamen Gewalttat starb: Sie wurde aus dem Bus geworfen. Wie ist es möglich, dass Frauen in Indien immer wieder mit Gruppenvergewaltigungen konfrontiert sind?

Vergewaltigung und Respektlosigkeit gegenüber Frauen sind kein indisches Phänomen. Unglücklicherweise war der Blick auf Frauen überall auf der Welt und durch die verschiedenen Historien hindurch nie respektvoll oder von Gleichheit geprägt. Dabei wünschen wir uns eine Gesellschaft, die Frauen als Personen wahrnimmt und nicht in ihrer sexuellen Funktion gefangen hält. Das ist doch der Grund, warum der feministische Kampf universell ausgefochten wird, auch in den sogenannten hochentwickelten Gesellschaften, oder?

Sie betrachten Gewalt gegenüber Frauen jetzt sehr weit gefasst.

Ich möchte mir das ungeheure Unrecht gegenüber Frauen erklären. Die Gewalt wird durch die männliche Libido verursacht. Es ist die Dominanz, Rache und Bestrafung des einen Geschlechts gegenüber dem anderen, natürlich immer mit einer bestimmten persönlichen Situation verknüpft. Das Verhalten zeigt sich insbesondere, wenn Länder oder Gemeinschaften Krieg führen, ganz gleich ob in ethnischen Auseinandersetzungen, Kasten- oder Klassenkämpfen. Auch zunächst unschuldig wirkende Gesten, beispielsweise, dass ein Mann in der Öffentlichkeit zuerst gegrüßt wird, oder dass die Frau mit der Hochzeit ihren Namen verliert, spiegeln Vorurteile und Verachtung wieder. Das geht allen Frauen rund um den Globus so, mal schamloser, mal dezenter ausgeprägt.

Was ist denn das Besondere an der Situation der indischen Frauen?
Die indische Gesellschaft wird von patriarchalen Normen bestimmt und ist gleichzeitig mit den rapiden Veränderungen einer globalisierten Welt konfrontiert. Ich kann die Schwierigkeiten nur kurz umreißen: Die Bildungschancen sind ungleich verteilt und nur wenige profitieren von der ökonomischen Entwicklung. Die Kasten- und Geschlechterunterschiede sind gewaltig, ungeheure Menschenmassen ziehen in die Städte und bleiben auf ihrer frustrierten Hoffnung sitzen.

Vom Habenichts zum Vergewaltiger ist aber doch ein großer Schritt?

Natürlich kommen Vergewaltiger aus allen Schichten der Gesellschaft. Sind sie privilegiert, bleiben ihre Taten meist verdeckt und sie kommen straflos davon. Doch die Geschehnisse stehen in einem größeren Zusammenhang. Kombinieren wir die alte konservative männliche Kultur und ihre Ungleichheit mit den modernen als befremdlich empfundenen Ideen. Die neuen sozialen Diskrepanzen und ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken überfordern die Menschen, führen zu aufgestautem Ärger. Wir sitzen auf einem Pulverfass, das völlig unberechenbar in alle Formen von Gewalt explodiert. Eine tödliche Kombination aus dem Schlimmsten des Alten und des Neuen entmenschlicht die Gesellschaft. Die Regierung erhält auf Biegen und Brechen ihre Macht. Sie will ein industrialisiertes und nukleares Land. Unsere Regierung hat den Grundbedürfnissen der Bevölkerung den Rücken zugekehrt. Die politische Klasse ist arrogant, männlich und machthungrig.

Aber die Bevölkerung ist nach dem Schreck aufgewacht. In Delhi wurde wochenlang demonstriert. Sind sie auch auf die Straße gegangen?

Nein, aber ich fühle mich dennoch als Teil der Bewegung. Das ist kein Kampf, der gerade begonnen hat, wir protestieren und verhandeln schon seit langem.

Warum ist die Zahl der Vergewaltigungen in Neu-Delhi zweimal so hoch wie in Mumbai? Können Sie das erklären?

Mumbai hat schon früh ein ziviles Bewusstsein entwickelt und sich immer ihren Stolz als weltstädtische Kultur erhalten. Delhi hingegen ist eher ein geografisch-administrativer Raum als eine Stadt. Die Hauptstadtregion ist ein Hort für Kriminelle und ein Alptraum für alle, die Recht und Ordnung erhalten wollen.

Teile der indischen Öffentlichkeit verlangen jetzt die Todesstrafe für die Vergewaltiger. Ist sie ein geeignetes Mittel, um Vergewaltigungen zu verhindern?

Niemals. Vielmehr geht es um die Ursachen kriminellen Verhaltens. Wir müssen patriarchale Gedankenmodelle reformieren und andere Ungleichheiten ausbalancieren. Drastische Strafen werden nur unseren Schmerz beschwichtigen. Hat die Todesstrafe in irgendeiner Gesellschaft die Kriminalität reduziert? Nein, denn das kann nur die Aufklärung!

„Ein Mädchen aufzuziehen, ist wie Nachbars Garten wässern“, sagt ein indisches Sprichwort. Ist es ein Fluch, in Indien eine Frau zu sein?

Indien ist nicht nur ein Land der Fötusmorde und Mitgiftzahlungen. Indien besteht auch aus Frauen wie mir, die keinen Unterschied daraus machen, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen großziehen. In unserem Leben spielt die Mitgift keine Rolle. Die Proteste nach dem ruchlosen Verbrechen sind auch ein Produkt Indiens. Da waren nicht nur jugendliche Frauen und Männer, sondern auch Erwachsene auf der Straße. Diese Menschen glauben aufrichtig an ihre Forderungen.

Was werden sie bewirken?

Beispielsweise das jüngst eingesetzte Verma-Komitee, dass sich jetzt mit der Gesetzeslage von Vergewaltigung beschäftigt. Der Verma-Report ist eine sensible Artikulation dessen, was wir brauchen, und wir drängeln die teilnahmslose Regierung, ihn umzusetzen.

Überall auf dem indischen Subkontinent wird in Tempeln die weibliche Kraft verehrt. Männer fallen vor den Bildnissen der Göttin auf die Knie. Sind das die gleichen Männer, die die Frauenrechte verletzen?

Menschliche Wesen sind vor allem auch widersprüchlich. Ja, die weibliche Kraft wird von vielen Menschen in diesem Land verehrt. Es gibt Lebensweisen, in denen Frauen traditionell einen angesehenen Platz haben. Doch ist ein traditioneller Mann ein Göttinnen-Anhänger, macht ihn das noch nicht zu einem liberalen Vater.

"Männer können sich frei von Empathie bewegen"

Waffen statt Worte. Eine nationalistische Partei verteilt in Mumbai Messer an Frauen, um sie im Kampf gegen Vergewaltiger zu unterstützen.
Waffen statt Worte. Eine nationalistische Partei verteilt in Mumbai Messer an Frauen, um sie im Kampf gegen Vergewaltiger zu unterstützen.

© dpa

Ist die Tragödie am Ende eine Chance? Wird der grausame Tod von Nirbhaya, die im Dezember von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt und getötet wurde, die tief verwurzelte patriarchale Tradition verändern?

Es wurde schon viel darüber diskutiert, wie und warum Menschen zu Bestien werden. Der Fall Nirbhaya verstärkt das Bedürfnis, es zu verstehen. Wir hoffen, dass wir der Menschlichkeit wieder zu ihrem Recht verhelfen können. Der Tod der Studentin soll nicht umsonst gewesen sein.

In ihrem Roman „Mai“ beschreiben sie eine Mutter, die ihre Kraft der Familie schenkt. Sinnbild dafür ist ihr gekrümmtes Rückgrat.

Der Roman beschreibt detailliert die Verletzlichkeit der Protagonistin. Sie könnte als Metapher für Frauen im traditionellen Nordindien stehen. Mai ist Gewalt ausgesetzt, doch kann sie nicht nur als schwach wahrgenommen werden. Im Laufe des Romans wird die verborgene Stärke der Frau mit dem gebeugten Rücken zum Leben erweckt. Sie behauptet sich gegen die Älteren des Haushalts, indem sie ihre eigenen Entscheidungen fällt. Allerdings geht sie anders vor, als eine moderne Frau es tun würde.

Dann sind es also Duldsamkeit und Hingabe, die Frauen so anfällig für Gewalt macht?

Duldsamkeit lehrt uns Empathie und ermöglicht es uns, überlegt zu handeln. Vorbilder wie Jesus, Gandhi oder der Dalai Lama beziehen sich auf diese Eigenschaften. Das Problem liegt in der Einseitigkeit. Frauen werden diese Werte eingeimpft, Männer können sich frei davon bewegen.

Die westlichen Medien vermuten mit Blick auf den Arabischen Frühling bereits einen Indischen Frühling? Ist das denkbar?

Die Art und Weise, in der sich die Protestler ausgetauscht haben, hat Ähnlichkeit mit den Protesten des Arabischen Frühlings. Aber die Motive und Ziele sind nicht politisch, wie sie es in der arabischen Welt waren. Und so stark ich die Arroganz der Regierung oft empfinde, sie ist nicht so pervers wie in Libyen, Ägypten oder Syrien.

Können sie als Intellektuelle und Autorin etwas verändern?

Ich kann nur ohne Angst schreiben und sprechen und darf mich nicht von illusionären oder reflexhaften Lösungen hinreißen lassen.

Geetanjali Shree lebt in Neu-Delhi. Bevor sich die 56-jährige Historikerin und Sozialwissenschaftlerin der Schriftstellerei zuwendete, schrieb sie wissenschaftliche Arbeiten. Seit 1992 hat sie vier Romane und vier Bände mit Erzählungen veröffentlicht. In Deutschland wurde sie durch den Roman „Mai“ (Draupadi Verlag) bekannt. Das Gespräch führte Antje Stiebitz.

Antje Stiebitz

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